Ein Garten im Winter
Licht gelöscht, fing sie an zu erzählen. »An jenem Tag im Sommergarten verliebt Vera sich in Sascha, und sie bereut ihre Entscheidung niemals, obwohl ihre Mutter sie missbilligt und in Sorge ist wegen Saschas Liebe zur Poesie. Aber Vera ist jung und liebt ihren Mann leidenschaftlich. Als ihr erstes Kind zur Welt kommt, erscheint es ihr wie ein Wunder. Sie nennen es Anastasija, und sie ist der strahlende Mittelpunkt in Veras Leben. Als Leo im Jahr darauf geboren wird, ist Vera so glücklich wie noch nie, obwohl in der Sowjetunion dunkle Zeiten angebrochen sind. Die Welt ist informiert und weiß von Stalins Gräueltaten. Ständig verschwinden und sterben Menschen. Das weiß niemand besser als Vera und Olga, die immer noch nicht offen über ihren Vater sprechen dürfen. Aber im Juni 1941 sind alle Sorgen weit weg, zumindest scheint es Vera so, als sie
auf dem fruchtbaren dunklen Boden kniet und ihren Garten bearbeitet. Hier, vor der Stadt, haben Sascha und sie ein kleines Stück Land, auf dem sie Gemüse für den langen, kalten Leningrader Winter anbauen. Vera arbeitet immer noch in der Bibliothek, während Sascha an der Universität studiert, aber nur das lernt, was Stalin zulässt. Sie werden gute oder zumindest unauffällige Sowjetbürger, denn immer noch sieht man überall die schwarzen Transporter. In einem Jahr will Sascha seinen Abschluss machen. Er hofft, dann an einer der Universitäten einen Lehrstuhl zu bekommen.
»Guck mal, Mama!«, ruft Leo ihr zu und hält eine winzige Karotte in die Höhe. Sie erinnert noch eher an eine Wurzel als an ein Gemüse. Vera weiß, sie sollte ihn tadeln, doch sein Lächeln ist einfach zu ansteckend. Er ist vier Jahre und hat die goldenen Locken und das heitere Naturell seines Vaters. »Steck die Karotte wieder in die Erde, Leo, sie braucht noch Zeit zum Wachsen.«
»Ich hab’s ihm gesagt«, erklärt die fünfjährige Anja, die mit ihrer ernsten altklugen Art das pure Gegenteil ihres Bruders ist.
»Das war auch gut«, erwidert Vera und verbeißt sich ein Lächeln. Obwohl sie erst zweiundzwanzig ist, ist sie durch die Kinder schnell erwachsen geworden. Nur wenn Sascha und sie allein sind, fühlen sie sich noch richtig jung.
Als Vera ihre Gartenarbeit beendet hat, ruft sie die Kinder zu sich, nimmt sie bei der Hand und macht sich auf den langen Rückweg zu ihrer Wohnung.
Es ist später Nachmittag, als sie Leningrad erreichen, und die Straßen sind voller Menschen, die aufgeregt rufen und umherlaufen. Zuerst denkt Vera, die Weißen Nächte hätten die Menschen so in Aufregung versetzt, doch als sie die Fontanka-Brücke erreichen, bekommt sie bruchstückhaft Gespräche, beginnende Auseinandersetzungen, eine Welle der Angst mit.
Sie hört, wie aus einem Lautsprecher ein quakendes Geräusch dringt, und dann das Wort Achtung , das alle aufmerken lässt. Sie umklammert die Hände der Kinder und tritt in die Menge, als die Ankündigung beginnt: »Bürger der Sowjetunion … um vier Uhr morgens sind deutsche Truppen … ohne Kriegserklärung … in unser Land eingedrungen …«
Die Rede geht endlos weiter, fordert sie auf, gute Sowjetbürger zu sein, sich der Roten Armee anzuschließen und dem Feind entgegenzutreten, aber Vera kann nicht mehr zuhören. Sie denkt nur noch daran, nach Hause zu kommen.
Die Kinder weinen schon lange, bevor Vera ihre Wohnung am Moika-Ufer erreicht. Doch das hört sie kaum. Zwar ist sie eine Mutter, die die Hände ihrer Kinder hält, aber sie ist auch Tochter und Ehefrau, und jetzt möchte sie unbedingt ihre Mutter und ihren Mann sehen.
Sie führt ihre Kinder die schmutzige Treppe hinauf und durch erschreckend stille Flure. In ihrer Wohnung ist kein Licht, daher braucht sie einen Moment, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden.
Olga und die Mutter stehen noch in Arbeitskluft am Fenster und kleben Zeitungen auf die Scheibe. Als Vera eintritt, taumelt Mutter vom Fenster zurück, nimmt sie in die Arme und ruft: »Gott sei Dank!«
»Wir haben viel zu tun, und zwar schnell«, sagt Mama, worauf Olga das Fenster ganz zuklebt und dann zu ihnen kommt. Vera sieht, dass sie geweint hat. Ihre Wangen sind tränenverschmiert, und ihre rotblonden Haare stehen wirr ab. Olga hat die Angewohnheit, an ihren Haaren zu zupfen, wenn sie nervös ist oder Angst hat.
»Vera«, sagt Mama forsch. »Lauf mit Olga zum Laden. Kauft so viel haltbare Lebensmittel wie möglich. Buchweizen, Honig, Zucker, Schweineschmalz. Ich gehe schnell zur Bank und hebe all unser Geld
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