Ein Garten im Winter
ab.« Dann kniet sie sich vor Leo und Anja. »Ihr beiden bleibt allein hier und wartet, bis wir zurück sind.«
Anja fängt sofort an zu jammern. »Ich will aber mit, Baba.«
Mama berührt Anjas Wange. »Jetzt ist alles anders, selbst für Kinder.« Sie steht auf, holt ihre Tasche aus dem anderen Zimmer und vergewissert sich, dass ihr blaues Sparbuch darin ist.
Die drei verlassen zusammen die Wohnung, ziehen die Tür hinter sich zu und hören, wie der Riegel herunterfällt. Fast unmittelbar darauf ertönt Weinen.
Vera sieht ihre Mutter an. »Ich kann sie doch nicht einfach so hierlassen, eingeschlossen –«
»Du wirst noch ganz anderes können, Unvorstellbares«, erwidert ihre Mutter müde. »Aber jetzt lass uns gehen, bevor es zu spät ist.«
Draußen spannt sich ein wolkenlos dunkelblauer Himmel über Leningrad, und der Duft vom Flieder vor dem Wohnhaus erfüllt die Luft. Es scheint ihnen unvorstellbar, dass an so einem Abend Krieg drohen soll … bis sie um die Ecke biegen und sehen, dass sich an der Bank eine Menschenmenge vor den geschlossenen Türen drängt. Die Wartenden schwenken laut rufend ihre Sparbücher. Man hört Frauen weinen.
»Wir sind schon zu spät«, stellt die Mutter fest.
»Was ist denn los?«, fragt Olga und sieht sich, nervös an ihren Haaren zupfend, um. Eine ältere Frau neben ihr stöhnt plötzlich auf und sinkt zu Boden. Sekunden später wird sie von der Menge überrannt.
»Die Banken schließen. Zu viele Menschen haben auf einmal ihr Geld abgehoben.« Sie beißt sich auf die Unterlippe, bis sie blutet. Dann geht sie mit ihnen zum Lebensmittelladen. Hier raffen die Leute alles zusammen, was sie tragen können. Die Regale sind schon fast leer. Außerdem schnellen die Preise in rasender Geschwindigkeit immer höher.
Vera hat Mühe, all das zu begreifen. Gerade ist Krieg ausgerufen worden und schon sind alle Lebensmittel ausverkauft und die Leute um sie herum wirken verzweifelt und benommen.
»Das habe ich schon mal erlebt«, sagt ihre Mutter knapp.
Im Laden bekommen sie mit ihrem Geld nur noch Buchweizen, Mehl, Linsen und Schweineschmalz. Sie tragen ihre mageren Vorräte durch die vollen Straßen und erreichen kurz nach sechs die Wohnung.
Als Vera hört, dass ihre Kinder immer noch weinen, bricht es ihr fast das Herz. Sie schließt die Tür auf und hebt sie beide hoch. Leo schlingt ihr die Arme um den Hals, klammert sich an sie und sagt: »Ich hab dich vermisst, Mama.«
Da denkt Vera, dass sie in einer Sache niemals mehr dem Rat ihrer Mutter folgen wird: Nie mehr wird sie ihre Kinder allein lassen.
»Wo ist Papa?«, fragt sie Anja, aber die zuckt nur die schmalen Schultern.
Mittlerweile müsste er bereits zu Hause sein.
»Dem geht es sicher gut«, meint ihre Mutter. »Es wird nur schwierig sein, durch die vollen Straßen zu kommen.«
Aber die Sorge um ihn quält Vera und wächst mit jeder Minute. Endlich, um acht Uhr abends, betritt er die Wohnung. Sein Gesicht ist schmutzig, sein Haar schweißnass.
»Veruschka«, sagt er, zieht sie in die Arme und drückt sie so fest an sich, dass sie kaum noch Luft bekommt. »Die Bahnen waren voll. Also bin ich den ganzen Weg gelaufen. Geht es euch gut?«
»Jetzt ja«, antwortet sie.
Und das glaubt sie auch.
Mitten in der Nacht setzt sich Vera im Bett auf. Sie hört ihre Großmutter in der dumpfen Dunkelheit schnarchen. Durch die Zeitungen am Fenster dringt nur spärlich Licht. Die Stadt ist seltsam, fast schon unheimlich ruhig. Es ist, als ob ganz Leningrad die Luft angehalten hätte und nun nicht mehr auszuatmen wagte.
In diesem Zwielicht wirkt ihre Wohnung noch kleiner und vollgestopfter. Mit den drei schmalen Betten im Wohnbereich und den Kinderbettchen in der Küche kann man sich kaum noch bewegen. Sie können nicht mal alle zusammen essen oder um den Tisch und die Stühle herumgehen.
Nicht weit weg von ihr bemerkt sie, wie Mama und Olga auch aufrecht im Bett sitzen. Sascha neben ihr ist so still, wie sie ihn noch nie erlebt hat.
»Was sollen wir denn jetzt machen?«, bricht Olga das Schweigen. Sie ist neunzehn und sollte nur Romantik, Liebe und Zukunftspläne im Kopf haben. Nicht Krieg. »Vielleicht wollen die Deutschen uns ja retten. Genosse Stalin –«
»Schsch«, zischt Mama scharf und späht hinüber zu ihrer schlafenden Mutter. Manches darf man nicht laut aussprechen. Das sollte Olga mittlerweile wissen.
»Morgen gehen wir zur Arbeit«, sagt die Mutter. »Genau wie an jedem Tag. Deshalb müssen wir jetzt schlafen.
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