Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
zuvor Hetty und Felix blieb sie in der Tür stehen und staunte. Dann begann sie, langsam an den behängten Wänden entlangzugehen, vor dem Regal mit den ungerahmten Bildern blieb sie stehen und blickte sich um. «Wirklich beeindruckend. Es müssen etwa dreißig sein. Oder vierzig?»
«Ich habe noch nicht gezählt. Irgendwo wird es eine Liste geben. In seinen Tagebuchnotizen steht nichts darüber, er hat auch nie erwähnt, dass er Gemälde kauft.»
«Ihr Vater hatte eine verlässliche späte Liebe gefunden. Zudem eine praktische. Wenn man sie nicht mehr mag, verkauft man sie einfach oder lässt sie auf dem Dachboden verstauben. Wir brauchen mehr Licht.» Sie zog die grünen Vorhänge auf, die Sonne döste immer noch unter ihrer Wolkendecke, dennoch war der Tag jetzt heller.
Auch im Entree war es schummerig gewesen, Christine sah ihre Gastgeberin prüfend an. «Sie sehen blass und müde aus, Henrietta. Wollen wir diese Besichtigung verschieben?»
«Aber nein! Ich habe nur unruhig geschlafen. Es reicht, wenn wir ein Fenster öffnen. Wo sind Ihre Bilder?»
«Meine Bilder? Jedenfalls nicht an den Wänden. Sehr betrüblich. Das erste zeigt die Außenalster im Morgennebel, ich war sogar halbwegs zufrieden damit. Natürlich habe ich mir vorgestellt, es hängt in bestem Licht im großen Wohnzimmer.» Sie lächelte mit Ironie und sah für diesen Moment sehr jung aus. «Ganz so größenwahnsinnig bin ich nun doch nicht, ich kenne meine Grenzen. Aber warten Sie ab, in fünf Jahren!»
Der beste Kenner in Hamburg sei Direktor Lichtwark, er werde sich diese Sammlung sicher gern ansehen. Er sei unermüdlich missionarisch in Sachen Kunst unterwegs, besonders der heimatlichen. Seit einigen Jahren lade er auch bedeutende Maler nach Hamburg ein, sogar einige aus Frankreich, um Bilder der Stadt und des Hafens zu malen.
«Obwohl er für etliche dieser Künstler von der Crème der Hanseaten geschmäht wird, versteht er es wie kein Zweiter, Mäzene aufzutreiben. Zur Förderung junger Maler, für Stipendien oder Ankäufe für die Kunsthalle. Wahrscheinlich kannte er Ihren Vater. Ziemlich sicher sogar.»
In der nächsten halben Stunde hörte Henrietta ihr bisher unbekannte Namen wie Siebelist, Wohlers, Eitner, Herbst, Liebermann oder Illies, was wenig zu bedeuten hatte, denn sie kannte keine Maler, die noch lebten. Sie sah norddeutsche Landschaften, Bilder mit Titeln wie Dorfstraße bei Jork oder Bauernmädchen vor der Scheune , es gab Torfstecher und Landarbeiter, Brücken und Segelboote, ländliche Szenen, üppige grüne Landschaften, die an das idyllische Alstertal ihrer Kindheit erinnerten, Alster und Elbe. Die allermeisten zeigten dieses flirrende Licht, die intensiven hellen Farben. Es gab viel Grün, auch Orange und Violett, warme Brauntöne, leuchtendes Blau und Gelb.
«Gar nicht schlecht», befand Christine. «Hier sind überwiegend avantgardistische Maler aus der Umgebung vertreten. Ihr Vater hat an die Zukunft geglaubt. Sicher war er in den Ateliers, da können Sie herumfragen. Herr Eitner unterrichtet bei der Röver, das wissen Sie sicher, und Herr Illies beginnt nach den Sommerferien. Beide sind sehr charmant, sie werden Ihnen gerne Auskunft geben. Schauen Sie mal – diese Kühe! Thomas Herbst hat ein echtes Faible für Rindviecher. Darüber wird schon gespottet. Aber sind sie nicht großartig?»
Henrietta zog schon das nächste Bild aus dem Regal und hielt es ins Licht. «Das gefällt mir. Es ist wieder ganz anders. Kennen Sie den Maler auch?» Sie drehte die auf ihren Rahmen gespannte Leinwand um. Alle Bilder trugen auf der Rückseite ein kleines Schild mit dem Namen des Künstlers, dem Titel und einem Datum.
Christine war noch mit etwas anderem beschäftigt. «Hier fehlt offenbar eins», murmelte sie, strich mit der Fingerspitze über eine gut daumenbreite Lücke zwischen zwei mit bemaltem Leinen bespannten Rahmen und zupfte stirnrunzelnd ein paar Fasern von einem überstehenden Nagelköpfchen ab. «Eine Lücke», sagte sie laut. «Sicher stand hier eines von meinen, und er hat es inzwischen vernichtet.»
Henrietta hob den Blick von dem kleinen Gemälde in ihren Händen. «Vernichtet? Das hätte er ganz gewiss nicht getan. Seien Sie nicht so streng mit Ihrer eigenen Kunst. Ich bin sicher, wir entdecken es gleich. Schauen Sie mal auf dieses. Kennen Sie den Maler?»
Christine schnippte die Leinenfasern von ihren Händen und beugte sich aufmerksam über Hettys Fund. «Das ist in der Tat beeindruckend», sagte sie
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