Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
Familienoberhauptes erwartet wurde. Leider wirkte es nie souverän genug.
Nun saß sie neben ihrem Gatten, lächelte unentwegt, hantierte zierlich mit Messer und Gabel, tupfte sich noch zierlicher mit der Serviette den Mund und sah auf unbestimmte Weise durchsichtig aus. Als flöge sie gleich davon. Ihr ungewöhnlich üppiges kastanienbraunes Haar war auch unter ihrem schlichten schwarzen Hut als wunderschön zu erkennen, nur schien es für Marys zarten Hals viel zu schwer.
Und Ernst? Er war anders als sein jüngerer Bruder. Nicht nur seine Mutter war der Ansicht, niemand sei von so natürlichem Charme und solcher Noblesse wie Felix. Doch Ernst bekam das Älterwerden gut. Da waren mehr Ruhe und gesunde Selbstgewissheit in seinen Augen und seiner Haltung, man sah ihm an, dass er im Hafen, Kontor und an der Börse ein bedeutender Mann war, weit gereist, mit soliden Verbindungen in die Welt. Womöglich war er kein glücklicher Mensch, aber sicher war er zufrieden mit dem, was er schon erreicht hatte und was die Zukunft ihm versprach. Das war mehr, als die meisten Menschen in seinem Alter schafften, ob im Souterrain oder der Beletage. Sein Vater hatte die Grootmann’sche Firma größer und bedeutender gemacht, als sie in seinen jungen Jahren gewesen war. Ernst begann mit der Eroberung der neuen Felder, die seine Zeit bot.
Und seine Ehe? Die war seine eigene Wahl gewesen, aber von beiden Familien mit Freude begrüßt worden. Von den Grootmanns umso mehr, als sie eine unpassende, immerhin diskret behandelte Liaison abgelöst hatte.
«Sie haben ihn auch gerngehabt, nicht wahr?» Die Stimme des Mannes auf dem Platz neben Lydia Grootmann klang ein wenig brüchig vom Alter, doch ruhig und bei aller Behutsamkeit und genauen Wahl der Worte bestimmt. «Ich sehe es, ja, ich sehe es. Grübeln Sie nicht zu viel, verehrte gnädige Frau, unser lieber Freund Mommsen, wenn ich mir erlauben darf, ihn so zu nennen, hielt viel vom Denken, aber rein gar nichts vom Grübeln.»
Der freundliche alte Mann mit dem bis über sein Brustbein reichenden weißen Bart beschämte sie. Er hätte ihr unhöfliches Schweigen als Ignoranz und Beleidigung empfinden müssen, doch er wertete es als Ausdruck ihrer Trauer.
«Danke», sagte sie leise und wandte ihm ihre ganze Aufmerksamkeit zu, «ich werde mich daran erinnern. Sie haben ihn gut gekannt.»
Als er den Grootmanns sein Beileid bekundet hatte, war er ihnen fremd erschienen. Seine Augen hatte echte Trauer und Anteilnahme gezeigt, der Zustand seiner Hände hatte vermuten lassen, er sei Sophus’ Gärtner gewesen. Aber Helmer Birkheim war viele Jahre als Hafenlotse gefahren und nun als dilettierender Bildhauer recht erfolgreich. Ein Autodidakt, er schuf neben Putti und lieblichen Jungfrauen für Springbrunnen, Köpfen klassischer Dichter und Denker auch Statuen für Gräber.
«Er ist viel zu früh von uns gegangen, viel zu früh», fuhr der alte Mann behutsam fort, «und so überraschend. Wir alle werden ihn sehr vermissen. Dennoch – er hatte ein angenehmes Leben ohne ein Ende im Leiden, wie es den meisten von uns Erdenwürmern auferlegt wird. Als Frau Lindner ihm den Morgentee bringen wollte, fand sie ihn mit einem Lächeln auf den Lippen in seinem Bett, schon auf der langen Reise zu unserem Herrgott. So hat sie berichtet. Das ist doch schön, wirklich schön.» Plötzlich lachte er mit leisem Glucksen, nur hörbar für Lydias Ohren. «Er wird da oben schon weiter debattieren, er war nämlich gern ein bisschen streitsüchtig, unser lieber Herr Mommsen, finden Sie nicht?» Unversehens wurde aus der still amüsierten Miene wieder eine tieftraurige. «Aber dass seine Henrietta so weit entfernt lebt – das war ihm schwer. Tja», er hob mit seinen schwieligen Händen sein Glas, nahm behutsam ein Schlückchen Wein und stellte es anerkennend nickend zurück, «tja, es ist ein Jammer, dass die liebe Mrs. Winfield es nicht rechtzeitig … na, sie hat wohl nur auf mein Stichwort gewartet.»
Tatsächlich trat in diesem Moment Sophus Mommsens Tochter auf die Terrasse hinaus. Sie hatte eine gute, ihrer für ein Mädchen recht frischen Intelligenz angemessene Erziehung erhalten. Nun war sie eine verheiratete Frau. Man konnte also Vernunft, Beherrschung und tadellose Manieren erwarten. Besonders am Tag der Beerdigung ihres eigenen Vaters. Leider sah es nicht danach aus.
« Mon dieu , Henrietta!», entfuhr es Lydia Grootmann. «Was ist passiert?»
«Und wo, um Himmels willen, ist ihr Hut?!»,
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