Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
ihre Hand unter den Schleier glitt, um eine Träne abzutupfen. In den fünfunddreißig Jahren ihrer Ehe waren Tränen fast so selten gewesen wie Schnee im Mai. Ein passender Vergleich, denn wo Tränen angemessen gewesen wären, zitternde weibliche Schwäche, war Lydia zu Eis erstarrt, in ihrer Miene wie in ihrem Herzen, und hatte lange gebraucht, wieder aufzutauen.
Doch dann hatte er bedacht, dass auch Julianes Trauerfeier in dieser Kirche stattgefunden hatte, vor – wie vielen Jahren? Fünfzehn. Schon sechzehn? Wohl eher achtzehn. Lydia hatte ihre jüngere Schwester sehr geliebt, wenn sie ihr auch nie hatte nachsehen können, dass sie diesen völlig ehrgeizfreien und nur einigermaßen amüsanten, diesen überhaupt unpassenden Mann geheiratet hatte.
«Nein, meine Liebe, ich würdige nur die Aussicht. Hier an der Elbe gibt es kaum eine schönere.» Er reichte ihr den Arm, fühlte ihre Hand darauf, wünschte, sie möge fester sein, sich an ihm festhalten, ihn festhalten, und fuhr nur für sie bestimmt fort: «Ich habe mich erinnert, wie wir in unserem ersten Ehesommer mit der Jolle auf einer der Inseln gestrandet sind.»
«Ja. Das ist sehr lange her. Aber die Insel», fügte sie nach einem Atemzug hinzu, «liegt erheblich weiter flussabwärts.»
Sie blieb nur kurz an seiner Seite und ließ ihren Blick dem seinen folgen. Ihre Trauerkleidung war trotz der Wärme des Tages noch makellos, der Schleier von dem mit schwarzen Seidentüllwolken beladenen Hut noch unter dem Kinn gebunden, das Taftmantelkleid leicht, doch mit dem eng um den Hals liegenden, mit Jettperlen bestickten Stehkragen besonders hoch geschlossen. Nur ihr weiches blondes Haar und die helle, für ihre Jahre immer noch schöne Haut ließen bei aller Strenge der Erscheinung etwas Verletzliches ahnen.
Bei Juliane war es umgekehrt gewesen. Die hatte verletzlich gewirkt, oft ein bisschen unberechenbar, aber meistens heiter. Jeder hatte Juliane gemocht, vor Lydia hatten alle Respekt.
Es gab Momente, da schüchterte sie selbst ihn ein. Er war sicher, dass sie darum nicht wusste und auch nicht wissen wollte. Es widersprach dem Bild, das sie von dem Mann hatte, mit dem sie ihr Leben teilte.
«Ich werde nachsehen, ob Frau Lindner Unterstützung braucht», sagte sie, leise genug, dass nur er es hörte. Beide wussten, dass Alma Lindner als erfahrene Hausdame bei einer so kleinen Gesellschaft und in einem erstklassigen Restaurant ganz gewiss keine Hilfe oder gar Kontrolle brauchte.
Dem warmen Wetter geschuldet, wurde nur ein leichter Lunch serviert, kalte Gurkensuppe, dann Rebhuhnflügel und -brüstchen, dazu Maronenpüree und junges Wirsinggemüse, zum Dessert frische Erdbeeren und verschiedene Cremes, dazu ein leichter Weißwein, schließlich indischer Tee und Kaffee, Sherry und Port.
«Wir sollten nun zu Tisch bitten, Vater. Die Zeit …» Ernst Grootmann, ältester Sohn und Kompagnon, war an das Terrassengeländer getreten, in der Hand seine Taschenuhr, ein Erbstück des seligen Großpapas Ernst-Heinrich. Im Gegensatz zu dem alten Bonvivant machte der Enkel seinem Namen alle Ehre. Stets hanseatisch korrekt gekleidet, das akkurat gescheitelte dunkelblonde Haar nie zu lang, nie zu kurz, der Blick seiner grauen Augen im glattrasierten Gesicht wirkte selbst im Kreis der Familie zurückhaltend. «Da kommt auch Claire. Sie wollte noch mit dem Pastor sprechen. Ich glaube, er ist ein Freund seines Kollegen von St. Gertrud bei uns auf der Uhlenhorst.»
Claire Grootmann war eine schmale Frau von auf den ersten Blick schwer zu schätzendem Alter, ihr Teint war hell, aber frisch, die Augen grau, ihre Haltung aufrecht und auf unauffällige Weise beweglich. Sie wurde allgemein als die freundlichste der Geschwister betrachtet. Mit ihren dreißig Jahren nahm sie eine mittlere Position in der Geschwisterreihe ein, also wurden sie und ihre Anliegen häufiger übersehen als die der anderen.
Lange war sie für ein wenig begabtes Mädchen gehalten worden, bis ihre Großmutter, von ihrem Naturell das ganze Gegenteil ihrer zarten Enkelin, auf die Idee kam, einen neuen Augenarzt zu konsultieren. Hinfort trug Claire eine Brille, die sie wissbegieriger, klüger und noch unscheinbarer gemacht hatte.
Ihr schlichtes schwarzes Kleid war nur im Oberteil mit Biesen und schmalen Spitzenstreifen geschmückt, immerhin waren die Ärmel nach der aktuellen Mode zu Puffärmeln gebauscht. Sie nickte Vater, Mutter und Bruder flüchtig lächelnd zu. Der Schleier ihres nur bescheiden
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