Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
unpassendem Geplauder bedrängt. Und niemand hatte weiter nach Thomas gefragt, als sie versicherte, er komme bald nach, vielleicht schon morgen.
Als die Gäste und auch die Mitglieder der Familie aufbrachen, war nach einigem Hin und Her entschieden worden, dass sie als verheiratete junge Dame allein im Haus ihres Vaters wohnen könne, Frau Lindner sei als erfahrene Hausdame geeignet als Chaperon.
Der alte Birkheim hatte ihr zum Abschied väterlich über die Wange gestrichen. Seine Hand war früher schon rau gewesen, daran erinnerte sie sich gut. Vor langer Zeit hatte er eine ganze Menagerie für sie geschnitzt, und sie hatte atemlos das Wunder beobachtet, wie aus Buchenholzklötzchen ein Pferd wurde, ein Elefant, ein wilder Tiger oder geschmeidiger Fuchs. In einer der vielen Schachteln und Kisten auf dem Dachboden mussten sie alle noch stecken. Sie wollte sie unbedingt finden.
Friedrich Grootmann – Onkel Friedrich – hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. Er hatte bedauert, dass sie nicht mit an die Alster kam, aber verstanden, dass sie im Haus ihrer Kindheit ihrem Vater nah sein wollte. Er sei aber jederzeit für sie da, wann immer sie ihn brauche, auch im Kontor.
«Sieh uns bitte nach, wenn wir es Felix überlassen, dich heimzubringen», hatte er gebeten, während seine Frau vor dem Spiegel im Entree Hut und Schleier richtete. «Lydia ist heute sehr angegriffen. Wer könnte das besser verstehen als du.»
Sie hatte genickt und sich doch wieder an die kühle Distanz erinnert, mit der die Schwester ihrer Mutter ihr und ihrem Vater früher begegnet war. Als sie nach dem Tod ihrer Mutter Trost und Geborgenheit brauchte, war nicht Lydia Grootmann zur Stelle gewesen, sondern Marline Siddons. Sie hatten einander getröstet, die trauernde Freundin die den Verlust nicht begreifende Tochter, das vierjährige Kind die weinende Frau. Und so war es gut gewesen. Und geblieben. Wegen Marlines Nähe hatte sie sich auf das Pensionat in Bristol gefreut, der Stadt im Südwesten Englands, in der die Siddons inzwischen lebten, und sich dort schnell daheim gefühlt.
Nun war sie in ein leeres Haus zurückgekehrt.
Sie trat ans Fenster und blickte über den Garten. Das Mondlicht malte scharfe Schatten, aber der leichte Wind bewegte zart die Kronen der Bäume und machte ihre Umrisse auf dem Rasen vage. Es duftete nach Geißblatt und Teerosen, ein Hauch von Reseda und Nelken stieg aus den Rabatten auf. Auch die letzten Blütentrauben der Robinie beim Pavillon verströmten noch ihren Duft, süß – und sehr giftig. Jede ihrer Gouvernanten hatte sie streng davor gewarnt. Sogar Pferde konnten sterben, wenn sie nur an der Rinde knabberten. Trotzdem duftete nichts schöner als ein blühender Garten am Fluss in einer Sommernacht.
Ein anderer Geruch mischte sich hinein, ein Hauch von dem ägyptischen Zigarettentabak, den auch Thomas am liebsten rauchte. Es musste lange nach ein Uhr sein. Konnte Frau Lindner nicht schlafen? Sie rauchte also Zigaretten. Die Hausdame war ihr so perfekt und unnahbar erschienen, ein kleines Laster machte sie nur menschlicher. Das vorkragende Dach versperrte den Blick nach unten, ohnedies wäre in der Dunkelheit niemand auf der Terrasse zu erkennen. Der ägyptische Duft war schon verflogen, womöglich war er nur eine Erinnerung, oder die späte Nachtstunde hatte ihn vorgegaukelt.
So wie jetzt dieses reibende Geräusch? Ein Frösteln kroch ihren Nacken hinauf. Sie verharrte bewegungslos und lauschte angestrengt – es war wieder so still, dass sie das Rascheln der Mäuse im trockenen Laub draußen im Garten zu hören meinte.
Wie töricht. Ihre Nerven waren überreizt, das war nur natürlich. Sie musste an etwas Schönes denken, etwas Tröstliches, dann kehrte die innere Ruhe zurück, wurde zu Müdigkeit, und sie konnte wieder schlafen. Bis der helle Morgen alle Gespenster vertrieb.
Wenn sie früher in der Nacht erwacht war, hatte sie aus der Bibliothek oder aus dem Salon oft noch Stimmen gehört, sogar aus der Küche. Niemals streitende, sondern immer leise Gespräche – eine summende Melodie der Geborgenheit. Wenn es später war, tiefe Nacht, hatte sie auf das Knarren im alten Gebälk gelauscht, auf den Wind in den Baumkronen. Manchmal, besonders in der Zeit der Herbststürme, pfiff und jaulte er. Dann hatte sie sich gewünscht, Papa möge die Treppe heraufkommen, sich zu ihr setzen und eine Geschichte mit glücklichem Ausgang erzählen. Das war nie geschehen, aber weil sie gewusst hatte, dass er da
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