Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
flüsterte Mary und ließ erschreckt die ebenfalls fehlenden Handschuhe unerwähnt.
Wenngleich das exakt die treffenden Fragen waren, klangen sie nicht sehr einfühlsam, wenn man bedachte, was für ein Tag dies war.
Henrietta sah in der Tat nicht aus, wie man es bei diesem Anlass von einer Tochter erwartete. Sie trug nicht einmal Schwarz. Ihr tannengrünes Reisekostüm war zerknittert, was nach der Überfahrt auf dem wenig komfortablen und in Sachen Bedienung gewiss drittklassigen Dampfboot vorkommen konnte, aber es war auch beschmutzt, und ein Riss vom Rocksaum bis zum linken Knie ließ das seidene Unterkleid sehen. Das war zum Glück von derselben Farbe, was es leichter machte, die Peinlichkeit zu ignorieren. Umso mehr, als es anstatt mit modischen Volants nur mit bescheidenen Streifen schwarzer Spitze besetzt war. Ihre geröteten Wangen mochten der Wärme des Tages geschuldet sein, die schmutzigen Hände und die Schramme auf der linken Wange erforderten allerdings mehr als die übliche Nachsicht.
Alle Herren hatten sich nach dem ersten Schreck erhoben, wie es sich gehörte, aber bevor Henrietta auch nur einen Gruß murmeln konnte, trat ein hochgewachsener, bis in die gepflegten Schnurrbartspitzen außerordentlich eleganter Mann neben sie. Felix Grootmann schob beschützend seinen Arm unter ihren und neigte grüßend den Kopf. An seiner Kleidung war so wenig auszusetzen wie am Zustand seines dichten, fast schwarzen Haars und seiner manikürten Hände, nur seine für gewöhnlich blitzblank polierten Schuhe waren staubig.
«Der Hut meiner verehrten Cousine ist davongeflogen und in der Elbe gelandet», erklärte er heiter. «Das müssen wir ihr nachsehen, Maman . Nicht nur, weil dieser Tag für Henrietta sehr viel trauriger ist als für uns alle.» Sein Lächeln, das viele Herzen weiblicher Wesen von der Milchfrau bis zur Reedersgattin schneller schlagen ließ, verschwand aus Augen und Mundwinkeln. «Ihr Bemühen, rechtzeitig hier zu sein, war mit einigem Ungemach verbunden. Sie hat die Fähre vor der Zeit über die Jakobsleiter verlassen, mit Einverständnis des Kapitäns natürlich, was wiederum nur möglich war, weil der gute Jason Highbury ein Boot längsseits geordert hatte, um schneller nach Hause zu kommen. Das macht er ja meistens, aber nun gebt Henrietta endlich einen bequemen Stuhl und einen starken Mokka, besser noch einen großen Schluck Cognac.»
Alma Lindner, bis vor wenigen Tagen Hausdame bei Sophus Mommsen, nun nur noch eine Frau fortgeschrittenen Alters mit ungewisser Zukunft, hatte sich nicht zu den Trauergästen gesetzt, obwohl Friedrich Grootmann sie dazu aufgefordert hatte. Sie hatte sich in der Küche des Restaurants unbeliebt gemacht – dieser Küche, die zu den besten im weiten Umkreis gehörte –, indem sie mit strengem Blick überwachte, was die Köche taten, wie sich die Kellner benahmen. Kurzum, sie hatte die Aufsicht über den reibungslosen Ablauf der auch von ihr geplanten und bestellten Bewirtung der Trauergäste übernommen. Sie hatte nichts auszusetzen gefunden, nichts zu korrigieren. Es war anzunehmen, dass ihr das nicht wirklich gefallen hatte, denn eine Frau wie Alma Lindner korrigierte gern, fand gern das Haar in der Suppe. Nur so fühlte sie sich sicher, nichts übersehen und ihre Pflicht erfüllt zu haben.
Im gedämpften Licht des Entrees beobachtete sie die seltsame Ankunft der Tochter und Erbin ihres Dienstherrn. Sie sah sie zum ersten Mal. Während der drei Jahre, die sie in Mommsens Dienst gestanden hatte, war Henrietta nicht zurück an die Elbe gekommen. Was auch daran liegen mochte, dass ihr sonst wenig reisefreudiger Vater sie in dieser kurzen Zeit zweimal in Bristol besucht hatte, zu ihrer Hochzeit vor zwei Jahren in Gesellschaft einiger Grootmanns und noch einmal vor einem halben Jahr. Beide Male war er höchst beschwingt zurückgekehrt. Sie hatte eine selbstbewusste junge Frau erwartet. Eine wie Emma Grootmann. Und nun dieses ungeschickte Wesen? Zum ersten Mal seit Sophus Mommsens Tod zeigte ihr Gesicht den Anflug eines Lächelns, als sie in die Küche eilte, um für ein weiteres Gedeck, Cognac und Mokka zu sorgen.
Henrietta wurde von allen begrüßt, mitfühlend, neugierig oder förmlich. Nun war doch Wirklichkeit, was in dem Telegramm gestanden hatte, sie war angekommen und wäre am liebsten einfach wieder gegangen. Endlich nahm auch Lydia Grootmann ihre Hand. Aber sie sagte nichts. Sie hielt Henriettas Hand in ihren beiden, und plötzlich, als gelinge es
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