Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
Respekt. Paul Ekhoff, hieß es dort, hat die Seiten gewechselt.
Martha spürte, wie tief ihn das verletzte, sie war eine kluge Frau. Lass sie doch, sagte sie dann, lass sie doch. Wir haben es geschafft, wir sind raus aus dem Schlick. Wir haben jetzt andere Freunde.
Dann nickte er. Nur wenn wieder irgendwo von Streik gesprochen wurde, im Kommissariat, im Gasthaus oder in der dunklen Wohnküche seiner Mutter, spürte er sauren Geschmack im Mund. Er hatte Verbrecher zur Strecke zu bringen, große wie kleine, und dabei ohne Parteilichkeit zu sein. Bisher war ihm das gelungen. Ein Streik war etwas anderes. Oben und unten, Gehorsam, Pflichterfüllung – das waren ihm unverrückbare Tatsachen. Aber bei einem großen Streik? Wir sind raus aus dem Schlick, wir haben es geschafft? Er vergaß nie, dass sie das nicht nur ihrem Fleiß und Wagemut verdankten. Sie beide hatten Glück gehabt. Gott hatte sie nicht nur mit einem wachen Geist und gesunden Körper gesegnet, sondern auch im richtigen Moment die passenden Helfer geschickt. Martha wollte daran nicht erinnert werden. Er erinnerte sich bei vielen Gelegenheiten, aber darüber sprach er so wenig wie über sein Unbehagen wegen des Konfliktes, den der drohende Arbeitskampf für ihn bedeutete.
Vielleicht war alles nur Gerede. Streiks gab es immer wieder, dass aber der ganze Hafen lahmgelegt wurde, konnte er sich nicht vorstellen. Tausende von Arbeitern, Schauerleute und Kohlenträger, Rostklopfer und Kesselreiniger, Ewer- und Kranführer, die Stauer, die Getreidearbeiter und wie sie alle hießen. Dazu die Leute in den Werften – die sollten sich alle einig sein? Und wie lange? Wovon sollten sie leben ohne Arbeit? So gut gefüllt war keine Streikkasse. Erst recht nicht für die Tagelöhner. Die bekamen ihre Familien schon nicht satt, wenn sie Arbeit fanden.
Endlich löste er den Blick vom Hof, er hatte schon viel zu lange hinuntergestarrt. Wie ein Automat hatte er die Zahl der dort abgestellten Wagen und Karren registriert, die Leute, die in den Hof kamen oder ihn verließen, von einem Eingang zum anderen gingen, mit den Details von Haarfarbe oder Kleidung, Besonderheiten in Gang oder Haltung. Schlösse er jetzt die Augen, könnte er darüber Bericht geben. Das war eine Gabe, die er jahrelang ständig und überall zusätzlich geübt hatte, um ein guter Kriminaler zu werden. Nun war es schwer, das nur zu tun, wenn es gebraucht wurde.
Er setzte sich an seinen Arbeitstisch, rückte Tintenglas und Federhalterablage zurecht und beugte sich noch einmal über seine Notizen. Er überflog die Zeilen und korrigierte Unleserlichkeiten, bevor er sie ins Schreibzimmer gab, wo sie sauber und mit mehreren Kopien abgeschrieben wurden. Mit seiner akkuraten Handschrift hatte er selbst als junger Polizist zahllose Seiten für Höherrangige kopiert und dabei viel gelernt. Was für eine Verschwendung, wenn nun Frauen, die natürlich nie ermitteln würden, Notizen und Berichte kopierten.
Henningsen kam herein, erhitzt, als sei er durch die langen Flure gerannt (was er tatsächlich war, er bemühte sich stets, niemanden warten zu lassen), und setzte sich Ekhoff gegenüber an den kleineren Tisch. Der Polizeiassistent legte sein Notizbuch auf die Schreibunterlage und sah den Kommissar abwartend an.
Irgendwann ist es so weit, dachte Ekhoff, dann vergisst er diese perfekte Höflichkeit und redet einfach drauflos. Und irgendwann werden sein Kragen und seine Manschetten schmuddelig werden wie bei allen anderen Normalsterblichen. Immerhin sah Henningsens Notizbuch aus, als habe es einer der Jagdhunde seines Vaters apportiert und genüsslich darauf herumgekaut. Das ließ hoffen.
Dann sprach Henningsen doch unaufgefordert. «Mir ist gerade eingefallen, pardon, es geht mich natürlich nichts an, aber Sie hatten sich doch für heute Vormittag wegen einer Beerdigung beurlauben lassen. Ihr alter Lehrer, nicht wahr? Der Vormittag ist noch nicht vorbei, wenn Sie noch …» Ekhoffs starr und dunkel werdender Blick ließ Henningsen erröten. Wie konnte er so ungeschickt sein, einen Vorgesetzten im generösen Ton seines freien Tages zu versichern. «Pardon», stotterte er, «ich dachte nur, also – ja, es geht mich wirklich nichts an.»
«Dann lassen Sie uns zusammenfassen, was wir haben, Henningsen.» Ekhoffs Blick wurde wieder hell, und auch er legte sein Notizbuch vor sich auf den Tisch. «Männliche Leiche», begann er, «laut Dr. Winkler etwa dreißig Jahre alt, nach dem ersten Eindruck am Fundort in
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