Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
riesigen Baustelle. Sie hatte lange einem Schlachtfeld geglichen, einer Wunde in der Stadt. Und dann waren die Stahlgerüste der Speicher in den Himmel gewachsen, Hunderte Männer dazwischen wie Ameisen. Endlich war er fasziniert gewesen.
Im Kanal, in den zu den Speicherwinden führenden Fleeten und in den kilometerlangen Hafenbecken schoben sich Boote aller Art, vor allem Ewer und kraftvolle Dampfbarkassen, die ganze Verbände von Schuten schoben oder zogen. Mittendrin suchten Ruderboote geschickt ihren Weg. Rufe gingen hin und her, ärgerliches oder fröhliches Tuten und Klingeln, Winden rasselten oder quietschten. Grootmanns Seufzer war heute tatsächlich ein überwiegend zufriedener Seufzer. Allen Unkenrufen, allen überstandenen und allen drohenden Krisen zum Trotz blühte hier die Wirtschaft. Alles gedieh, alles wuchs.
Das war seine Welt. Er würde ungern auf glanzvolle Dinner, Besuche im Austernkeller oder Conventgarten , auf die Sommerfrische an der Ostsee oder Reisen nach Paris, London oder Wien verzichten, er war eitel genug, sich im Frack wohl zu fühlen, und ein richtig temperierter Champagner oder edler Rotwein schenkten ihm Momente äußersten Wohlbehagens. Aber was war all das ohne sein Leben im Kontor und im Hafen?
«Ein schöner Anblick.» Die vertraute Stimme unterbrach seine Gedanken.
«Sehr schön, Ernst.» Er blickte seinen Sohn fragend an. «Sind wir nur wenige Schritte voneinander denselben Weg gegangen?»
Wenn das Wetter eine Droschke oder die eigene Kutsche erforderte, fuhren Vater und Sohn für gewöhnlich gemeinsam ins Kontor, sonst nahm jeder seinen eigenen Weg nach eigenem Tagesplan und Gusto. Das hatte Friedrich Grootmann eingeführt. Ernst hatte nie widersprochen.
«Nein, Vater. Ich war heute schon früh hier. Die Elisetta wurde erwartet, und wir kennen den neuen Kapitän noch nicht, ich fand es angebracht, nach dem Rechten zu sehen.» Er lachte sein trockenes, bei manchen Gelegenheiten kaum hörbares Lachen. «Ich war neugierig. Natürlich hätte ich das Blessing allein überlassen können.»
An der Brooksbrücke über den Zollkanal mit ihren an eine Spielzeug-Ritterburg erinnernden Aufbauten herrschte Gedränge. Friedrich Grootmann fielen zwei Frauen auf, Damen, nach ihrer Kleidung und Haltung zu urteilen. Die größere war etwa in Claires Alter, die andere schon in dieser Phase des Übergangs, in der sich entscheidet, ob aus ihr eine runde Matrone oder eine hagere Alte werden wird. Ersteres stand in Aussicht. Beide hatten ihren Zeichenblock auf das Geländer entlang des Kanals gestützt und arbeiteten mit ihren Kohlestiften.
Die Jüngere blickte auf. Sie war eine aparte Erscheinung, sehr schlank, ihre Kleidung – weiße Bluse und dunkelblauer Rock – war schlicht, ein um die Schultern geschlungenes leichtes Tuch reichte im Rücken fast bis zur Taille. Das schmale Gesicht unter dichtem dunklem Haar wirkte ein wenig herb, aber reizvoll. Wirklich reizvoll. Das Strohhütchen mit blauem Band beschattete es kaum. Da trafen sich ihre Blicke, nur für einen Wimpernschlag, sie lächelte, ein wenig verstohlen, auch ein wenig frivol, charmant, dann war er schon nicht mehr gemeint.
«Du gefällst der jungen Dame», stellte er beiläufig fest. «Kennst du sie?»
Ernst hob fragend die Brauen. «Gefallen? Wem?»
«Der Dame mit dem Zeichenpapier, der jüngeren. Nein, nein, es war nur ein Scherz», beeilte er sich zu versichern. Er zog es vor, nicht zu wissen, mit welchen Damen seine Söhne Blicke tauschten, selbst wenn sie nicht nach Schankmamsell, Blumenmädchen oder Varietétänzerin aussahen.
Ernst blickte flüchtig über die Schulter zurück, beide Zeichnerinnen hatten ihre Köpfe wieder über ihr Papier gebeugt. «Erinnerst du dich an Fräulein Tesdorpf und ihren Zeichenlehrer Riefesell?», fragte er. «Ich glaube, Claire hatte in ihrer Mädchenzeit auch Stunden bei ihm. Wie die beiden hier vor zehn Jahren ständig die alten Straßen und Höfe gezeichnet haben – was für eine Fleißarbeit. Jetzt sind schon die neuen Gebäude wert, gezeichnet zu werden.»
Friedrich nickte. «Übrigens hatte die Baudeputation damals auch einen Fotografen beauftragt, die alten Straßenzüge und Fleete festzuhalten. Ich glaube, der Mann ist immer noch unterwegs. Er hat neulich vor unserem Kontorfenster Aufnahmen gemacht. Wir sollten ihm ein paar abkaufen. Oder selbst welche von unserem Kontor machen lassen.»
«Wann? Wann hast du ihn gesehen? Ich meine, vor unseren Fenstern?»
«Da müsste ich
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