Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
geheimen unterirdischen Flüsse rauschen. Und dann – er hatte eine Pause gemacht, damit sie lauschen und spüren konnte –, und dann ist alles nicht mehr so schlimm.
Ob es an diesem Tag geholfen hatte, blieb ungeklärt. Sie erinnerte sich nur vage daran, dass Ernst plötzlich da gewesen war. Er hatte nicht gefragt, er hatte angeordnet. Seither war sie Gast der Grootmanns, wohnte in einem der Gästezimmer in der oberen Etage, fieberte, verschlief und verdöste die Tage und den größeren Teil der Nächte. Später würde sie sich daran erinnern, dass sie gerade in den Nächten näher am Leben gewesen war.
An einem dunstigen Augustmorgen erwachte Henrietta und spürte, dass etwas anders war. Sie hörte Alltagsgeräusche. Stimmen im Garten, vorbeirollende Räder einer Kutsche, eilige Schritte auf der Treppe, den heiseren Warnpfiff eines Alsterdampfers, eine Möwe.
Ihr Kopf war klar. Ein bisschen war es gestern schon so gewesen. Da hatte es sie beunruhigt, und sie war zurück in den Nebel geflohen. Jetzt war es anders.
Sie rutschte aus dem hohen Bett, noch unsicher, aber der Schwindel ließ gleich nach. Am Fußende lag ein dezent geblümter Morgenmantel. Er gehörte ihr nicht und war zu groß, aber sie schlüpfte hinein und genoss das Gefühl von Seide auf ihrer Haut. Dann schob sie die schweren Übergardinen zur Seite und stieß beide Fensterflügel weit auf. Die Luft schmeckte süß und roch nach reifem Sommer. Hinter dem vorderen Garten und der Uferstraße erstreckte sich die Außenalster bis zur Lombardsbrücke mit der Mühle und weiter zur Silhouette der Innenstadt mit ihren Kirchtürmen und der Turmspitze des neuen, noch nicht ganz fertiggestellten Rathauses. Auf dem Wasser kreuzten Fährdampfer von Anleger zu Anleger, die Lastkähne und Schuten transportierten Fracht, dazwischen Segel- und Ruderboote, an den Ufern die geschlossenen Reihen der Baumkronen, dahinter, besonders am Westufer, die Parks und Gärten.
Es war schön. Sie lauschte dem Gedanken nach, ob er verboten sei, zu sehr dem Leben zugeneigt. Die beiden Männer, die sie am meisten geliebt hatte, immer noch liebte, hatten sie verlassen. Das zu glauben, war schwer, aber an diesem Morgen gab es keinen Zweifel mehr. Henriettas Herz schlug heftiger, und sie schloss die Augen. Vielleicht wäre es doch besser, wieder in diese Dämmerwelt zurückzukehren, die sie während der letzten Tage aufgenommen und behütet hatte.
Es klopfte, und sogleich öffnete sich die Tür. «Guten Morgen», rief eine muntere Stimmte, «guten Morgen, Hetty!»
«Nicht so laut, Emma», tadelte eine sanftere Stimme.
«Aber sie ist doch aufgestanden, und sicher hat sie endlich Hunger. Sie sieht putzmunter aus. Man konnte es gestern schon merken.»
«Hat sie recht, Hetty?» Claire, einzig wegen des doppelten Trauerfalls in dunkles Grau gekleidet, wobei Biesen und Knöpfe und die Unterseiten des rückwärtig gefältelten schmalen Rockes im Morgenlicht eine tröstliche Nuance heller schimmerten, musterte ihre Cousine mit freundlicher Sorge. «Wir wollen dich nicht anstrengen, wir dachten nur, es sei vielleicht an der Zeit, dir ein bisschen Abwechslung zu bieten. Es ist ein schöner Tag, wirklich nicht zu heiß, genau richtig für einen ersten Spaziergang durch den Garten. Nur ein paar Schritte, damit du wieder zu Kräften kommst.»
«Oder eine Ruderpartie über die Alster», ergänzte Emma. «Da musst du nur im Boot sitzen. Claire rudert für ihr Leben gern. Am liebsten nachts, mit oder ohne Mond. Aber sag’s nicht weiter. Mama fiele glatt in Ohnmacht. Außerdem macht es die Hände breit und schwielig, sehr hässlich.»
«Mama fällt nie in Ohnmacht, Emma, und ob ich nachts rudere oder nicht, ist ihr völlig egal. Besonders nachts», in Claires Augen blitzte es amüsiert, «da sieht es ja niemand. Und nun lass Hetty erst mal frühstücken. Du meine Güte, weint sie? Haben wir etwas Falsches gesagt, Hetty? Sind wir zu laut? Sollen wir gehen? Sicher möchtest du allein sein. Natürlich, wir …»
«Nein! Nein, bitte, geht nicht.» Hetty war auf den Sessel am Fenster gesunken, suchte in der winzigen Tasche des Morgenrocks vergeblich nach einem Taschentuch und wischte mit den Handrücken über die allerdings kaum mehr als feuchten Augen. «Ich will sehr gerne frühstücken. Wenn es Kaffee ist, was da so gut duftet, bitte zuerst eine Tasse Kaffee. Keinen Kamillen- und Melissentee mehr. Dann will ich auch in den Garten gehen. Leider kann ich nicht rudern, aber ich könnte es
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