Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
lernen.»
Nun rannen doch ein paar Tränen über ihre Wangen. Diesmal lächelte Claire, reichte ihr ein Taschentuch und schenkte Kaffee ein. Überhaupt hielt sie Kaffee für ein viel besseres Heilmittel als Melissentee, jedenfalls meistens.
So begann an diesem milden Morgen Henriettas Rückkehr ins Leben. Es bedeutete weder das Ende der Trauer noch des Zweifels und der Verwirrung. Tatsächlich begann nun erst die Zeit der Fragen, vieler Fragen, Unsicherheiten und ungelöster Rätsel, Stunden quälender Verlorenheit. Aber es bedeutete zugleich den Anfang der mutigen Zeit, den Anfang der Suche nach Antworten.
Eines wusste Hetty sicher – dass sie bei allem Schrecklichen das Glück gehabt hatte, nicht allein zu sein. Wäre sie in England gewesen, in Bristol, und Thomas dort gestorben – das andere, das grausamere Wort konnte sie immer noch nicht formulieren, nicht einmal in Gedanken –, wäre sie mit allem allein gewesen. Ihre Ersatzmutter und nun vertrauteste Freundin Marline lebte mit ihrem Mann im Orient, ihre Freundinnen aus dem Pensionat waren über das Commonwealth verstreut. Es gab noch einige Bekannte, aber Thomas war nie sehr gesellig und zudem oft verreist gewesen, so hatte sie als junge Ehefrau sehr zurückgezogen gelebt. Sie wäre nicht ganz allein gewesen, aber ohne Geborgenheit.
Und nun saß sie hier in einem behaglichen Zimmer und fühlte sich behütet. Als könnte die Welt da draußen, als könnte alles, was in den letzten Tagen geschehen war, sie nicht erreichen. Das bedeutete nur einen Aufschub, doch der mochte reichen, ihrer Seele ein Polster zu geben, das, was kommen würde, zu ertragen. Sie hoffte sehr, dieser Gedanke möge mehr als eine romantische Idee sein.
«Was wirst du nun tun?», fragte Emma und ließ damit doch gleich den kalten Wind herein. Sie schenkte auch für sich und Claire eine Tasse Kaffee ein. «Entschuldige, wenn ich das einfach so sage, aber du bist in einer ziemlich dummen Situation. Wirst du zurück nach England gehen?»
«Emma, bitte.» Claires Stimme klang nach echter Strenge. «Lass Hetty erst mal – nun, erst mal gesund werden. Dann ist immer noch Zeit, über all das nachzudenken.»
«All das?» Emma blickte Hetty an wie ein fragwürdiges Fundstück. «Du magst recht haben, Claire», entschied sie. «Sie sieht wirklich scheußlich aus, ich meine natürlich bildhübsch, aber scheußlich bleich.»
Hetty probierte ihren Kaffee und dachte, das scheine bei den Grootmanns der übliche Verlauf eines Gesprächs zu sein: Einer plappert unbedacht oder stellt sehr direkte Fragen, der andere – oder die andere – tadelt und fordert Höflichkeit und Rücksicht ein. Es gefiel ihr, es war ganz anders als diese langweiligen Tee- oder Tischgespräche, die stets in der sicheren Mitte aller Etiketteregeln balancierten und unweigerlich zu Anfällen von bleierner Müdigkeit führten. Claire war also wie ihr Bruder Felix für die Etikette, Emma für die direkten Fragen zuständig.
Sie stellte die Tasse behutsam zurück. Womöglich wäre Melissentee doch die bessere, zumindest die vernünftigere Wahl gewesen. Da war immer noch Trägheit in ihrem Kopf, als drehe sich sein Räderwerk nicht nur langsamer als gewöhnlich, sondern auch unregelmäßig. Ihre Hände zitterten, gerade genug, um das Porzellan leise klirren zu lassen.
«Wie lange bin ich hier?», fragte sie. «Mir sind die Tage so davongeglitten.»
Claire machte ein besorgtes Gesicht. «Anderthalb Wochen», sagte sie, «oder länger, Emma?»
«Zwölf Tage.»
«Es macht gar nichts, Hetty», beeilte sich Claire zu versichern. «Die meiste Zeit hast du geschlafen, auch nachdem das eigentliche Fieber vorbei war. Das war gut. Nichts ist so heilsam wie Schlaf. Während der letzten Tage hast du ganz ruhig geschlafen, meistens. Es war immer jemand in deiner Nähe, deshalb weiß ich es.»
«Meistens war dieser Jemand Claire. Ihr gehört auch der hübsche Morgenmantel, der dich gerade so gut kleidet.»
«Unsinn, alle haben sich abgewechselt. Frau Lindner war auch häufig hier. Sie scheint ein bisschen streng, aber sicher ist sie absolut zuverlässig.»
«Wie ein Wachhund», ergänzte Emma trocken. «Sie hütet auch Onkel Sophus’ Haus, ich meine dein Haus, niemand wird sich trauen einzubrechen.»
«Mein Haus», murmelte Hetty und fühlte sich wieder klein und schwebend. «Für mich wird es immer Papas Haus bleiben.»
Claire nickte teilnahmsvoll, selbst Emma sah schweigend aus dem Fenster.
Endlich richtete Hetty sich auf und
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