Ein Gebet für die Verdammten
getötet hat und im Gegenzug ein Kirchenmann einen König umbringt, ist keine leichte Sache. Trotzdem, warum tust du dich damit so schwer?«
»Weil nicht erwiesen ist, daß es so war«, erwiderte Fidelma leise.
Schon wollte Richter Ninnid wieder losplatzen, aber der Hochkönig gebot ihm zu schweigen.
»Du bist demnach anderer Auffassung?« fragte er.
»Das zu sagen wäre noch zu früh. Wenn wir aus den vergangenen Jahrhunderten, in denen die Richter unser Gesetzeswerk ausarbeiteten und weiterentwickelten, etwas gelernt haben, dann doch das, daß die Wahrheit mehr zählt als der einzelne Gesetzespassus. Die Wahrheit steht über allem, so wird es uns gelehrt, sie ist der eigentliche Sinn allen Seins. Wollen wir also Gerechtigkeit walten lassen, müssen wir die Wahrheit ergründen.«
Richter Ninnid lächelte hochmütig. »Wann widersprechen sich Rechtsprechung und Wahrheit?«
»Wenn ein Richter statt einer zeitaufwendigen, besonnenen Untersuchung auf eine für ihn zweckmäßige Erledigung des Falles drängt«, entgegnete Fidelma scharf. »Du kennst doch gewiß auch die alte Geschichte von dem güldenen Becher des Cormac Mac Art?«
»Heidnischer Blödsinn!« kommentierte er abfällig.
»Vielleicht in den Augen derer, die nur die Geschichte als solche, nicht aber ihren Symbolwert sehen. Es heißt darin, daß Cormac in den Besitz eines güldenen Bechers kam, der in drei Teile zerfiel, wenn drei Lügen erzählt wurden, und wieder zu einem Ganzen wurde, wenn drei Wahrheiten verkündetwurden. Die Wahrheit war es, die den Becher wieder heil machte.«
»Worauf willst du mit deiner Geschichte hinaus?« fragte der Hochkönig.
»Ich erinnere nur an die Worte meines Lehrers, an den Rat, den Morann den Fürsten unserer Königreiche erteilte: Mögen sie die Wahrheit verbreiten, und es wird ihren guten Ruf verbreiten. Mögen sie die Wahrheit stärken, und es wird sie selbst stärken. Mögen sie die Wahrheit erhalten, und es wird auch sie erhalten.«
Richter Barrán winkte müde ab. »Seine Worte sind allen bekannt, Fidelma.«
»Im Namen der Gerechtigkeit darf der Hochkönig nicht auf einen schnellen Urteilsspruch drängen, darf sich nicht von einem Zweckdenken zuungunsten der Wahrheit leiten lassen.«
Sechnassach seufzte hörbar. »Du hast deinen Standpunkt dargelegt, Fidelma. Ich meinerseits habe gesagt, daß ich dir für deine Beweisführung mehr Zeit zubillige. Aber endlos ist sie nicht.«
»Tempus omnia revelat«
, erinnerte ihn Fidelma mit einem lateinischen Zitat: Die Zeit enthüllt alles.«
»Das ist richtig«, stimmte ihr der Hochkönig zu. »Aber für Sterbliche wie uns ist die Zeit nicht endlos. Unsere Entscheidungen werden in Tagen gemessen, dürfen nicht in alle Ewigkeit aufgeschoben werden. Ich werde mit Dúnchad Muirisci und auch mit Blathmac sprechen. Das sind vernünftige Leute. Aber verbreitet sich erst einmal in ihren Königreichen die Nachricht, was hier geschehen ist, dürften sie Schwierigkeiten haben, die Hitzköpfe, die nach Rache schreien, zu bändigen. Es fragt sich, ob mehr Zeit uns etwas bringt.«
Fidelma erhob sich und verneigte sich zu Sechnassach hin.
»Ich werde das beherzigen«, sagte sie ruhig. »Ich will versuchen, den Fall in wenigen Tagen aufzuklären und nicht bis in alle Ewigkeit dafür zu brauchen.«
Eadulf und Gormán erwarteten sie im Gang vor dem Gemach ihres Bruders.
»Ist irgend etwas über Muirchertach Nárs Tod durchgesickert?« fragte sie Eadulf besorgt.
»Ich glaube nicht. Nur Rónán, der Fährtenleser, und zwei andere, die ihm geholfen haben, den Leichnam zu verhüllen und herzubringen, wissen, um wen es sich handelt, und sie haben Stillschweigen geschworen. Trotzdem dürfte es sich ziemlich bald herumsprechen. Irgend jemandem wird auffallen, daß er fehlt.«
Fidelma nickte. »Als erstes müssen wir mit Aíbnat sprechen und danach Dúnchad Muirisci aufsuchen, schließlich gilt er als Muirchertachs Nachfolger auf dem Thron.«
»Und was wird mit Bruder Drón?«
»Wo ist er jetzt?«
»Wir haben ihn Caol übergeben, und der hat ihn auf eins der Zimmer gebracht und bewacht ihn dort«, teilte ihr Gormán mit. »Er beteuert immer noch seine Unschuld, und das äußerst wortreich.«
»Wir werden ihn nicht länger als nötig warten lassen«, befand sie. »Sag Caol Bescheid, daß er Richter Ninnid zu ihm lassen darf. Eadulf und ich müssen erst zu Lady Aíbnat.«
Aíbnat empfing sie an der Tür zu ihrem Gemach. Mit unverhohlener Feindseligkeit blickte sie Fidelma an und
Weitere Kostenlose Bücher