Ein gefährlicher Gentleman
anderen bekannten Agenten beobachtet worden ist. Aber sie traf diese Männer stets bei gesellschaftlichen Ereignissen, weshalb es schwierig war, handfeste Beweise zu finden, zumal sie ja Verbindungen zu den höchsten Kreisen hat. Einer unserer Männer, den wir auf sie ansetzten, starb im Einsatz. Es sah wie ein Unfall aus, aber ich glaube nicht an Unfälle, wenn jemand einen Spion verfolgt. Besonders dann nicht, wenn dem Spion der Strick droht, falls man ihn erwischt.«
Luke glaubte auch nicht an einen Unfall. »Ich dachte, der verfluchte Krieg sei vorbei«, stieß er hervor.
»Kriege sind nie vorbei.« Es war nur ein winziger Augenblick, aber Michael sah erschöpft aus. »Ich glaube, sie ist sehr gefährlich. Im Tagebuch habe ich nichts Belastendes gefunden, aber offensichtlich hat sie befürchtet, es könne etwas Belastendes darin stehen. Wenn sie merkt, dass man ihr Haus beobachtet, könnte sie vermuten, dass ihr Cousin sich seiner Frau anvertraut hat. Und eins weiß ich sicher, wer einem so gefährlichen Beruf nachgeht, geht kein Risiko ein.«
»Dann ist Madeline in Gefahr?«
»Es wäre möglich.«
Luke stieß seinem Pferd die Fersen in die Flanken und galoppierte grußlos davon.
Luke hatte Lord Fitch falsch eingeschätzt. Er hatte schon wieder zugeschlagen.
Zumindest war sie ziemlich sicher, dass er es war.
Wer auch sonst?
Madeline starrte auf die Zeichnung und fragte sich, wie etwas, das als berechnende Waffe eingesetzt wurde, um jemanden aufzuwühlen, so quälend schön sein konnte. Der Hintergrund war eine in Schatten und Mondlicht getauchte Wand mit Vorhängen. Das einzige deutlich sichtbare Objekt – abgesehen von der Gestalt im Vordergrund – war ein offenes Fenster. Die Illusion, dass die Vorhänge von einer zarten Brise bewegt wurden, war perfekt, die Zeichnung strahlte eine einfache Eleganz aus, die nur ein begabter Künstler aufs Papier bannen konnte.
Eine Frau. Sie stand halb abgewandt vom Betrachter. Ihr anmutiger, nackter Körper war so kunstfertig gezeichnet, dass es ihr den Atem raubte. Die Frau hob das Gesicht leicht an und strahlte damit eine Würde und Ernsthaftigkeit aus, die im krassen Gegensatz zu der fein modellierten Linie ihrer nackten Brust, der Hüfte und jeder anderen Kurve stand, die von dem irisierenden Licht ausgeleuchtet wurden. Ein gleichermaßen schockierendes und – wie Madeline widerstrebend zugeben musste – ätherisches Bild im künstlerischen Sinne. Es war kein Akt, wie man ihn von den alten Meistern kannte. Es war anders. Erotisch. Modern und aufrüttelnd.
Die Frau auf der Zeichnung hatte langes, helles Haar.
Die Frau auf der Zeichnung war sie .
»Da ist eine Lady, die Euch gerne sehen möchte, Madam.« Hubert stand ruhig und gefasst in der Tür. »Sie weigert sich, mir ihren Namen zu nennen oder ihre Karte zu überreichen. Sie sagt …« Er zögerte, weil es ihn offensichtlich schmerzte, die Worte zu wiederholen. »Also, sie sagt, die britische Aristokratie werde von archaischen Bräuchen erdrückt, die vermutlich von zu viel Inzucht zeugen.«
Sie starrte ihn einen Moment lang sprachlos an, weil sie nicht sicher war, was sie darauf erwidern sollte. Er verzog das Gesicht so komisch. Als wollte er in fröhliches Gelächter ausbrechen oder nervös kichern, um den Worten die Schärfe zu nehmen. Madeline musste die Hand auf den Mund legen, um nicht aufzulachen. Aber Hubert hatte von einer Lady gesprochen. Wenn die Besucherin keine Lady wäre, hätte er von einer Person gesprochen. »Ich glaube, Ihr solltet sie in den blauen Salon geleiten«, entschied sie leise. »Zumindest bin ich jetzt neugierig, wer sie ist.«
»Natürlich, Madam.« Seine Antwort klang etwas steif.
Vorsichtig legte sie die Zeichnung mit dem Gesicht nach unten auf Colins Schreibtisch, damit niemand sie sah. Sie fuhr noch einmal prüfend über ihr Haar und befand dann, dass eine Besucherin, die sich so ankündigte, vermutlich keinen Gedanken an die Frisur ihrer Gastgeberin verschwenden würde. Sie erhob sich und machte sich auf den Weg, ihren geheimnisvollen Gast zu begrüßen.
Sie verharrte in der Tür des Salons und zögerte. Ihr Blick ruhte auf einer hochgewachsenen Frau mit Haaren, die eine spannende Farbe zwischen kastanienrot und braun hatten. Sie studierte eingehend das Porträt über dem Kamin. Es handelte sich um ein Gemälde, das Colins Urgroßvater zeigte. Er hielt einen Hut mit buschigen Federn in der Hand und hatte ein verruchtes Lächeln aufgesetzt.
Zögernd, weil ihr die
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