Ein gefährlicher Gentleman
versorgt. Trotzdem war der Anblick schlimm genug gewesen.
Die Regel, dass jeder Mann spätestens am dritten Tag seine Geheimnisse preisgebe, hatte Michael außer Kraft gesetzt. Er hatte so viele gebrochene Knochen gehabt, dass der Chirurg erwartete, er werde für immer entstellt sein. Man konnte das heute kaum glauben, wenn man den gut gekleideten, weltgewandten Mann betrachtete, der lässig auf dem Rücken seines Pferds saß.
Unnötig zu erwähnen, dass Lord Wellington sehr erfreut gewesen war, weil man damals seinen wertvollsten Spion aus den Händen der Feinde befreit hatte. Luke hatte geglaubt, damit sei die Angelegenheit auch erledigt.
Das schien nicht der Fall zu sein.
Die große Gestalt, die sich aus dem nachmittäglichen Nieselregen löste, war ein junger Mann in der Kleidung eines einfachen Kaufmanns. Sein schlenkernder Gang war vermutlich eine schlechte Angewohnheit. Er zog übertrieben unterwürfig den Hut. »Mylord.«
»Sei nicht so unterwürfig, Lawrence«, sagte Michael zur Begrüßung.
Der Neuankömmling straffte sich und verneigte sich spöttisch. Er hatte kantige Gesichtszüge und dunkles Haar, das sich unter dem Hut lockte. Eine gezackte Narbe weckte Lukes Interesse, sie verlief von einer Braue quer über das halbe Gesicht. Er hatte Glück gehabt, denn das Schwert hatte nur knapp sein Auge verfehlt. »Ich dachte, Unterwerfung wollen die feinen Pinkel von uns niederem Volk gern sehen.«
Michael glitt in einer fließenden Bewegung vom Pferderücken. »Höchst amüsant. Du brauchst nicht mit Cockney-Akzent sprechen, sei so gut. Was hast du für mich?«
Der geschäftsmäßige Ton des Gesprächs machte Luke neugierig. Er glitt aus dem Sattel. Michael hatte ihn aus gutem Grund auf diesen Ausritt eingeladen. Das nasse Gras quietschte unter seinen Stiefeln, und augenblicklich wurde seine Jacke noch feuchter. Aber diese Unterhaltung war es durchaus wert, sich ordentlich durchregnen zu lassen. Zumindest Michael und sein Kollege schienen dieser Auffassung zu sein. Der Mann namens Lawrence ließ Luke nicht aus den Augen. Doch dann nickte er knapp. »Lord Brewer hat wohl einiges von seinem Vermögen kurz vor seinem Tod liquidiert.«
»Wissen wir, warum er das getan hat?« Michael schien nicht im Geringsten überrascht zu sein. Der Regen machte ihm augenscheinlich nichts aus, ein nasser Schimmer legte sich auf sein Haar.
» Wir können bloß raten. Es gibt keine Spuren.«
»Alles hinterlässt Spuren.«
Luke verfolgte verwirrt den raschen Schlagabtausch. Er war nicht sicher, ob er an Madelines Stelle wütend werden sollte, weil Lord Brewers Finanzen ohne ihr Wissen überprüft worden waren. »Was hat das alles mit Madeline zu tun?«
»Im Moment interessiert mich vor allem der Cousin ihres Manns.«
»Du glaubst, Brewer hat diesem Mann Geld gegeben, damit er irgendwelchen illegalen Geschäften nachgeht?«
»Wer hat denn behauptet, dass Lord Brewers Cousin ein Mann ist?«, fragte Michael.
Luke brauchte einen Moment, um diese Eröffnung zu verdauen. Ein Tropfen rann über seinen Nacken. »Du ermittelst gegen eine Frau?«
»Sieh mich nicht so überrascht an. Glaubst du, Verrat und politische Intrigen sind nur auf ein Geschlecht beschränkt? Du weißt es doch besser als alle anderen.«
Oh ja, wie recht er hat, dachte er grollend.
»Nein, natürlich nicht«, murmelte Luke. »Ich habe bloß ein Problem damit, das alles in einen Zusammenhang zu bringen.«
Lawrence hob seine zerfetzte Augenbraue. »Die Lady ist vielleicht der kleine Fisch, der uns hilft, den großen Fang zu machen. Obwohl sie selbst allzu leicht entschlüpft. Sogar die Vorkehrungen, die wir getroffen haben, um ihr Haus zu beobachten, haben sich nicht als besonders fruchtbar erwiesen. Sie scheint zu wissen, dass wir dort sind.«
Jetzt war Luke vollends verwirrt. Fragend schaute er Michael an.
»Ich habe Alex gebeten, ein Arrangement zu ermöglichen. Sein Bruder John hat eine seiner früheren Geliebten, die zufällig im Haus neben unserem Ziel lebt, gebeten, einen Lakai einzustellen, ohne auf seine Empfehlungen zu achten oder Fragen zu stellen. Zu meiner Enttäuschung ist unsere Verdächtige bisher sehr vorsichtig. Ich habe nicht ernstlich erwartet, dass Alice Stewart unvorsichtig sein könnte. Aber wir hätten ja Glück haben können.«
Luke erkannte den Namen sofort. Es handelte sich also um die dunkelhaarige Lady, die sich letztens in der Oper zu Madelines Familie in die Loge gesetzt hatte. Sie war nach der Vorstellung überhastet
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