Ein gefährlicher Gentleman
beschattet. Eine interessante Narbe teilte eine Augenbraue in zwei Hälften und verlieh ihm das Aussehen eines vom Glück verlassenen Piraten. Er tippte höflich an die Krempe seines schäbigen Huts, als sie auftauchte. »Mylady.«
Ihr fragender Blick wurde mit einem kleinen Lächeln beantwortet. Er verbeugte sich und zog ein kleines Päckchen aus seiner Jackentasche. »Ich wurde angewiesen, auf Euch zu warten und dies hier persönlich auszuhändigen, Lady Brewer.«
Es war ein rechteckiges und schweres Päckchen. Ein erleichterter Schauer erfasste sie, als sie erkannte, worum es sich handeln musste: Colins Tagebuch! Wie versprochen hatte Luke es ihr zurückgebracht. »Ich danke Euch«, sagte sie möglichst würdevoll.
In den Augen des Mannes blitzte etwas Kluges auf, das im Gegensatz zu seiner schäbigen Kleidung stand. »Nichts zu danken. Es ist mir ein Vergnügen, einer so schönen Lady zu Diensten sein zu dürfen.«
Sie beobachtete, wie er sich entfernte. Seine Worte verwirrten sie ein wenig. Sie ließ sich von ihrem Kutscher in die Kutsche helfen. Sobald sie saß, wickelte sie das Päckchen aus. Die Kutsche zuckelte los.
Ihre Hände zitterten.
Lukes Nachricht war knapp. Für Euch, wie versprochen.
Für Euch. Wie versprochen.
Madeline hielt das Tagebuch mit beiden Händen umfasst und schaute aus dem Fenster. Sie sah die vorbeihuschenden Häuser nicht, sie hörte auch die Straßenhändler nicht, die an den Ecken ihre Waren anpriesen. Sie war gerührt, bewegt, erleichtert … all das empfand sie. Und noch mehr.
Zu ihrem Unglück empfand sie noch viel mehr.
Was sollte sie nur mit diesen Gefühlen anfangen?
Kapitel 6
»Ich kann nicht.«
»Warum?«
»Darum!« Elizabeth starrte ihre Begleiterin übertrieben bestürzt an. »Miles wird doch nicht um jemanden werben, nur weil ich ihm sage, er soll es tun. Er könnte sogar eine gewisse Abscheu der armen Miss Meyer gegenüber entwickeln, wenn ich ihn ermutige, eine Romanze mit ihr in Betracht zu ziehen. Er liebt nichts mehr, als mich zu ärgern. Wir kabbeln uns ständig.«
»Du hast mir letztens noch erzählt, als Kinder seid ihr unzertrennlich gewesen.«
»Jetzt sind wir aber erwachsen. Es ist nicht mehr wie früher.« Das war eine Untertreibung. Der Miles, an den sie sich erinnerte, hatte sich verändert. Sie konnte es nicht genau beschreiben, aber diese Veränderung war unbestreitbar da.
»Trotzdem hast du gestern Abend zweimal mit ihm getanzt.« Amelia St. James spazierte mit ihr zusammen durch den Park. Ihr Blick ruhte nachdenklich auf einer Gruppe Kinder, die von ihren Kindermädchen beaufsichtigt miteinander spielten. Ihr Mund zuckte.
»Er ist mein Cousin.« Elizabeth zuckte mit den Schultern. Sie genoss die Wärme dieses schönen Nachmittags. Der Park war verständlicherweise mit modisch gekleideten Gentlemen und Ladys überfüllt, und auf den Reitwegen herrschte Hochbetrieb. Sie gingen nebeneinander und ließen die Schirme über ihren Köpfen kreisen. »Wir sind zusammen aufgewachsen. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum ihm so viel Aufmerksamkeit zuteilwird. Er ist eben Miles.«
Ihre Freundin lachte. »Für dich vielleicht. Für alle anderen jungen Frauen, die in dieser Saison ausgezogen sind, einen Mann zu finden, ist er einfach unglaublich attraktiv. Man erzählt sich außerdem, er verfüge über ein gewisses Talent zu flirten. Und dann ist da noch dieses gewisse, träge Lächeln. Vertrau mir, ich kenne die Macht eines verdorbenen Lächelns nur zu gut.«
Wenn man bedachte, dass Amelia sich erst kürzlich mit einem von Londons begehrtesten Lebemännern, dem Lord Alexander St. James vermählt hatte – dem jüngsten Sohn des Duke of Berkeley – dann hatte sie bestimmt eine gewisse Ahnung. »Hm. Also gut, aber Miles ist nicht halb so, ach was, nicht annähernd so bezaubernd wie dein Ehemann«, murrte Elizabeth. »Er ist grob und manchmal schrecklich selbstgefällig. Nicht zu vergessen sein etwas fragwürdiger Sinn für Humor.«
»Andere halten ihn für ziemlich reizend.«
»Wenn sie ihn kennen würden, müssten sie ihre Meinung unter Umständen ändern.«
»Das ist ja exakt das, was Susanna gerne möchte. Sie wünscht sich die Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Miles Hawthorne ist nicht wohlhabend oder adelig, aber sie hat so viel Geld, dass es für beide reicht. Und ihr Vater verhätschelt sie.«
Merkwürdig, aber der Gedanke, Miles könne als Verehrer gewisse Mängel aufweisen, ließ Elizabeth gereizt reagieren. »Seine Familie ist
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