Ein gefährlicher Gentleman
möchtest du denn gerne in den Stunden vor Sonnenaufgang mit mir plaudern?«
»Erzähl mir von deiner neusten Arbeit.« Das war ein alter Trick, aber er klappte immer wieder. Der Enthusiasmus, mit dem seine Halbschwester sich der Kunst widmete, grenzte fast schon an Besessenheit.
Sie zeigte ihm die Arbeiten, und er hörte ihr aufmerksam zu. Er bewunderte die Leidenschaft, mit der sie sich ihrer Berufung widmete. Ihre Stimme verfiel in einen Singsang, während sie von den Talenten Leonardo da Vincis schwärmte, der Studien des menschlichen Körpers angefertigt hatte. Sie erzählte ihm, wie sehr diese Zeichnungen sie während ihrer Reise nach Italien inspiriert hatten, von der sie kürzlich zurückgekehrt war. Aber sie berichtete auch von beeindruckenden Privatsammlungen. Die neuen Skizzen seien einfach Stillleben, erklärte Regina ihm, während er gelegentlich an seinem Whisky nippte und der erste Lichtschimmer eines neuen Tages vor den hohen Fenstern des Hauses aufglomm. Das Haus hatte er ihr an dem Tag geschenkt, als er das Erbe seines Vaters angetreten hatte. Sie zeigte ihm die Skizzen: eine einzelne Blume, ein Alpenveilchen. Die Knospen begannen gerade erst, sich zu entfalten. Ein Wasserfall. Der Vorhang aus Wasser stürzte über einige zerklüftete Steine; eine Szene, die sie auf Zypern gesehen hatte. Das Pantheon an einem heißen Sommertag, zeitlos schön. Sie hatte unbestreitbar ein großes Talent, und er war stolz auf sie. Nicht nur deshalb hatte er sie nie verleugnet, obwohl sie die illegitime Tochter einer Mätresse seines Vaters war. Sein Vater hatte diese Affäre vor seiner Heirat mit Lukes Mutter gehabt, und Luke warf ihm diese Indiskretion nicht vor.
Er hatte ja selbst den einen oder anderen verhängnisvollen Fehler begangen.
Es war nicht leicht, Madelines gequälte Miene aus seiner Erinnerung zu verbannen. Vielleicht war dies auch der Grund, weshalb er geträumt hatte. »Ich habe dich immer um deine Leidenschaft beneidet«, erklärte er seiner Schwester, als sie ihm ein Bild von der Seufzerbrücke in Venedig bei Nacht präsentierte. Die Zeichnung fing perfekt das funkelnde Mondlicht auf dem Wasser ein.
»Und ich beneide dich darum, wie du dich von allen Menschen fernhältst«, erwiderte sie und ließ das Bild wieder auf den Stapel sinken. »Wann wirst du diese Angewohnheit ablegen?«
»Welche Angewohnheit?«
»Luke.« In ihrer Stimme schwang ein sanfter Tadel mit. »Du läufst doch vor etwas weg.«
Wenn er das bloß könnte. Dennoch tat er ahnungslos. »Ich laufe weg? Mir scheint, ich bin gerade hier.«
»Sei doch nicht so begriffsstutzig. Ich meine das eher symbolisch.« Sie lachte. Ihr Lachen war so hell wie der heraufdämmernde Morgen.
Unglücklicherweise konnte er nicht weglaufen. Nicht vor seinen Verpflichtungen, die er seiner Familie und dem Vermögen gegenüber hatte. Ebenso wenig vor den Erinnerungen, die ihn in der Vergangenheit erstarren ließen. »Vielleicht«, bemerkte er und lächelte freudlos, »könntest du mir verraten, was du als Nächstes zeichnen wirst? Hast du schon mal an die Hailes Abbey in Gloucestershire gedacht? Oder an Whitby? Englands ländliche Gegenden bieten einige herrliche Herausforderungen.«
Seine Schwester ließ sich von ihm nicht täuschen. Aber die Erwähnung von Querschiffen und frei tragenden Säulen weckte ihr Interesse. Sein Unbehagen war schnell vergessen, da sie schon bald angeregt über Kirchenruinen und dramatische Szenerien diskutierten, während die Sonne langsam höher stieg und den Himmel mit einem rosigen Hauch übergoss, in den sich vereinzelte Streifen Grau mischten.
»Wenn ich das richtig verstanden habe«, sagte Lady Hendricks mit gesenkter Stimme, »wurde Seine Lordschaft auf offener Straße von Straßenräubern angegriffen und brutal niedergeschlagen.«
Madeline bemühte sich um eine unbewegte Miene, obwohl es ihr schwerfiel. Sie nippte an ihrem Tee. »Die Geschichte wird jedes Mal anders erzählt. Ich glaube allmählich, das meiste davon ist übertrieben.«
Und ich danke Gott, dass dieser widerliche Kerl sich wohl tatsächlich nicht daran erinnert, was passiert ist.
Luke hatte die Nachricht, die sie Lord Fitch geschickt hatte, aus seiner Hosentasche entfernt, weshalb Seine Lordschaft nicht auf diesen Zettel zurückgreifen konnte, um die Ereignisse jenes Abends zu rekonstruieren. Aber selbst wenn er nicht wusste, wer ihm den Schlag versetzt oder wo er sich zu dem Zeitpunkt befunden hatte, blieb ihm immer noch das Tagebuch. Bis sie es
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