Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
Vom Netzwerk:
ein paar Sachen zusammenzupacken, schon jagt man sie die Treppen hinunter, manchmal mit Fußtritten und Kolbenhieben, um sie in Bussen zusammenzupferchen. Und wohin geht es? Die Nachrichten sind widersprüchlich, die größten Optimisten wollen etwas von einem Judenstaat gehört haben, den Hitlerdeutschland im Osten zu errichten beabsichtigt oder auf Madagaskar, das zu einem neuen Palästina werden soll. Die anderen, diejenigen, die versuchen zu fliehen, die sich aus dem Fenster stürzen oder ihre Kinder in aller Eile den Nachbarn anvertrauen, schenken dieser Mär nicht den geringsten Glauben. Sie wissen, daß es hinter den Grenzen Orte gibt, von denen man nicht zurückkehrt. Hannah ist gerade in der Rue du Bourg-l’Abbé angekommen, als sie von Esther die Neuigkeit erfährt, die sich in allen Geschäften des Viertels schnell herumspricht: Es ist die größte Razzia seit Beginn der Besatzung. Sie rennt zum Boulevard Richard-Lenoir und versteht sofort, was passiert ist, als sie sieht, daß Geschäft und Wohnung ihrer Eltern geschlossen sind. Die Eingangstüren sind versiegelt worden, Nachbarn bestätigen, daß ihre Eltern mit Hunderten anderer Bewohner des Viertels, die bereits erfaßt waren oder denunziert wurden, im Morgengrauen abtransportiert worden sind.
    Die erste Mauer ist eingestürzt, Hannah schwankt, sie kehrt in den Laden zurück und wirft sich in die Arme von Louise und Esther. Wie ein kleines Mädchen, das sich verirrt hat, ruft sie unter Tränen nach Maxime.

Als ein zweiter Brief aus dem Indre ankommt, schöpft Hannah wieder Hoffnung. Die Männer berichten, daß alles bereit sei, um sie aufzunehmen, am Ufer der Creuse würden sie die bedrohliche Lage und die Entbehrungen schnell vergessen. Sie kann die kleine, gedrängte Schrift Maximes kaum entziffern, doch dann stößt sie auf zwei Zeilen, die sie tief im Innern treffen. Der sehnlich erwartete Brief fällt ihr aus den Händen: Tania ist aus Lyon zu ihren beiden Schwägern gestoßen und hat sich vor einigen Tagen bei ihnen einquartiert. Wenn sie in Saint-Gaultier ankämen, wäre die Familie fast wieder vollzählig, lautet die gute Nachricht, die Maxime ihr freudig mitteilt.

    Die zweite Mauer stürzt krachend zusammen. Hannah hat die Obhut ihrer Familie verlassen, um unter Maximes Fittichen Zuflucht zu suchen, ohne ihn ist sie nichts. Sie meint den Verstand zu verlieren. Erst haben ihre Eltern sie verlassen, jetzt ist ihr Mann an der Reihe, dessen ist sie sich plötzlich sicher. Sie weiß, warum ihre Schwägerin die Reise unternommen hat, sie braucht keinen Beweis, ihr Instinkt täuscht sie nicht. In ihrem Innern hat sich eine Gewißheit eingenistet: Nichts kann diese beiden davon abhalten, zueinander zu finden. Tania ist da unten, bei Maxime. Alles kommt ins Rutschen, das Leben wird ihr unerträglich. Esther und Louise sehen, daß Hannah der Ohnmacht nahe ist, ihre Beine tragen sie nicht mehr, aschfahl klammert sie sich an der Verkaufstheke fest. Als die beiden den Brief lesen, verstehensie, was los ist. Esther ist von Hannahs Schmerz erschüttert, sie würde ihr gern sagen, wie sehr sie sich schuldig fühlt, weil sie es war, die Tania kurz vor ihrer Abreise nach Lyon die Adresse des Obersten gegeben hat.

    Sie beschließen, ihre Abreise zu beschleunigen. Gaston, der Lagerist, hat ihnen die gefälschten Ausweise besorgt, die sie brauchen, sie kennen die Adresse des Schleusers, in einigen Tagen werden sie in Saint-Gaultier sein. Hannah überläßt es den beiden anderen Frauen, alles in die Wege zu leiten. Sie schließen das Geschäft und die Praxis von Louise. Hannah reagiert nicht mehr, man muß sie an der Hand nehmen, das Notwendigste für sie zusammensuchen, Simons Koffer packen. Am Abend vor der Abreise weigert sie sich plötzlich, mitzukommen, sie wolle mit ihrem Sohn in Paris bleiben, sie müsse auf die Rückkehr ihrer Eltern warten und Robert pflegen, wenn er verwundet zurückkommen sollte. Ihr Blick ist verwirrt, sie ist kurz davor zu delirieren, Louise und Esther müssen ihre ganze Energie aufbringen, um Hannah umzustimmen. Schließlich ordnet sie sich der Führung der anderen unter und erklärt sich zum Aufbruch bereit, flüchtet sich aber in völliges Schweigen.
    Marcel übernimmt es, sie bis nach Montoire zu bringen und an dem Treffpunkt abzusetzen, der mit dem Schleuser vereinbart ist. Simon ist ganz aufgeregt wegen des Abenteuers und verschlingt mit den Augen die Landschaft, die an den Fensterscheiben des Citroën vorbeizieht. Immer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher