Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
Vom Netzwerk:
schemenhaften Silhouetten, die sie früher wöchentlich bei der Modezeitschrift ablieferte. Durch Maxime findet sie zu ihrem eigenen Stil, zu einem kräftigen Strich, den sie bis dahin noch nicht von sich kannte. Das Zeichnen beruhigt sie, mit dem Bleistift in der Hand zieht sie sich für viele Stunden in ihr Zimmer zurück,und hinterher versteckt sie ihre Skizzen tief unten in einer Schublade, wie ein kleines Kind, das sich schuldig fühlt.

    Zu Beginn des Sommers tut sich eine neue Perspektive auf. Das Bettengeschäft in Lyon ist zu einer nutzlosen Last geworden, die Gefahr von Raubüberfällen wächst. Da sich ein Kaufinteressent gemeldet hat, könnte sie eigentlich die Aufgabe übernehmen, ihn zu treffen und mit ihm über die Kaufbedingungen zu verhandeln. Daß Robert zum Kriegsdienst eingezogen wurde, hat die Schwiegermutter sehr mitgenommen, sie fühlt sich nicht in der Lage, nach Lyon zu reisen. Ein Freund der Familie, der bei der Präfektur arbeitet, würde Tania schon die notwendigen Papiere besorgen, sie könne dafür wieder ihren englisch klingenden Mädchennamen annehmen. Tania zögert. Robert hätte ohne Wenn und Aber seiner Mutter gehorcht, doch sie braucht Zeit zum Nachdenken.

    Ein Gedanke überzeugt sie: Sollte die Familie ihres Mannes ihren Plan verwirklichen und ins Indre flüchten, könnte sie nach der Abwicklung des Verkaufs zu ihnen stoßen. So würde sie in der schweren Zeit bei denen sein, die sie liebt, sie würde mit Hannah und Simon zusammenleben, Esther noch näher kommen. Und sie würde Maxime jeden Tag sehen.

Die Entscheidung ist gefallen. Louise hat ihre Kusine treffen können und von ihr die Adresse eines Obersten im Ruhestand erhalten, der mit seiner Tochter einen Landsitz am Ufer der Creuse bewohnt und sie aufnehmen kann. Georges und Maxime würden die Demarkationslinie zuerst überqueren und sich in Saint-Gaultier einrichten. Esther, Hannah, Louise und Simon sollen so schnell wie möglich nachkommen. Joseph möchte das Abenteuer nicht auf sich nehmen: Noch einmal eine Grenze zu überschreiten gehe über seine Kräfte; er wird zu Elise und Marcel nach Malakoff ziehen.
    Einen Schleuser zu finden ist nicht so schwierig, wie sie befürchtet haben, Elises Freunde nennen ihnen einen Ansprechpartner. Der Mann, den sie in einem Café im Stadtteil Belleville treffen, wirkt vertrauenswürdig, er hat die Grenze mehrfach passiert und sichert ihnen zu, daß ihnen nichts geschehen wird. Sie treffen sich mit ihm in einem Dorf im Süden von Montoire-sur-le-Loir, Marcel wird sie hinbringen. Sie kennen die Bedingungen: Sie müssen ein hübsches Sümmchen übergeben, sie dürfen nur ein Minimum an Gepäck mitnehmen, die Ersparnisse müssen ins Jackenfutter eingenäht sein, und sie brauchen gefälschte Ausweise.
    Am festgelegten Tag finden sie sich pünktlich im Hinterzimmer eines Cafés ein. Alles verläuft wie vorgesehen: Ein letzter Schluck im Café, ein Fußmarsch bei Mondschein und rauschendem Wind durch eine unbekannte Landschaft, wie ein Schattenriß der Wachposten unter dem Sternenhimmel, die Angst beimGrenzübertritt und schließlich die Freiheit, ein Händedruck von ihrem Schleuser, der sie nahe einem Dorf verläßt und wieder in der Dunkelheit verschwindet. Bis Tagesanbruch warten sie in einer Scheune im Stroh, dann fahren sie mit dem Bus nach Châteauroux. Dort rufen sie den Oberst an, der sie mit seinem alten Frontantriebler abholt. Seine Tochter Thérèse heißt sie willkommen und führt sie durchs Haus. Sie haben Zeit, sich mit der Umgebung vertraut zu machen, und können ihren Frauen eine Nachricht senden.

    Der Ort liegt an einem Hang über der Creuse und kauert sich an die romanische Kirche. Seine Gäßchen fallen zur Uferböschung steil ab, die mit hohen Gräsern bewachsen ist. Die Creuse umfließt erst die Pfeiler einer Brücke, deren Bögen mit ihren Spiegelbildern im Strom drei vollständige Kreise bilden, bevor sie ein Wasserkraftwerk speist, das die grauen Wassermassen in Licht verwandelt. Im Zentrum reihen sich kleine, ausschließlich einstöckige Häuser aneinander, am Ortsrand thronen zu beiden Seiten der Stadt stattliche Herrenhäuser in schattigen Parkanlagen über dem Flußufer. Das Haus des Obersten liegt inmitten eines Parks mit hundertjährigen Bäumen, der von einem Mäuerchen begrenzt wird. Durch das schmiedeeiserne Gartentor gelangt man zur Uferböschung. Der Gastgeber bewohnt mit seiner Tochter das Erdgeschoß, für die Gäste stehen im ersten Stock vier Zimmer zur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher