Ein Geschenk von Tiffany
Suzys Bruder, Kellys Freund. Habe ich dir meine Freundschaft in den letzten Monaten nicht deutlich genug bewiesen?«
»Natürlich hast du das«, beeilte sie sich zu versichern. Sie wich einen Schritt zurück auf den Balkon hinaus. »Du warst großartig. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich getan hätte.« Mit der freien Hand tastete sie hinter sich nach dem Geländer und umklammerte es.
»Und doch steckst du mich ständig in diese Schublade. Wieso?« Er schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern, kam immer näher.
Auch Cassie schüttelte nun den Kopf, wie um alles zu leugnen. Er war ihr ziemlich nahe gekommen, sie konnte sehen, dass er schwer atmete. Er war zornig über ihre Herablassung. Seine Augen brannten, auch angefacht durch den Wein. Er beugte sich vor und stützte sich rechts und links von ihr auf dem Geländer ab. Sie lehnte sich unwillkürlich zurück, doch davon ließ er sich nicht beirren.
»Ich bin kein kleiner Junge mehr, Cass«, sagte er mit so leiser, tiefer Stimme, dass sie die Vibration in der Magengrube zu spüren glaubte. »Und auch kein Heiliger.«
Seine Lippen waren nur noch Zentimeter von den ihren entfernt, sein Blick kroch über ihren Mund. Sie hielt den Atem an. Irgendwo in ihrem Hirn fing ein kleines rotes Licht an zu blinken. Das war verrückt, er war Suzys kleiner Bruder, er war wie ein Bruder für sie, er war mit seiner Traumfrau verlobt … Aber das alles hatte auf einmal keine Bedeutung mehr, was zählte, war, wie dicht er vor ihr stand. Der Wunsch, von ihm geküsst zu werden, seine Hände auf ihrem Körper zu spüren, schwoll in ihr an wie eine Woge, verschlang jede Vernunft. Unwillkürlich richtete sie sich ein wenig auf, sodass ihr Körper den seinen streifte.
Als er das fühlte, schob er den Kopf ein Stück weiter vor. Sie leckte sich erwartungsvoll die Lippen, bettelte fast um seinen Kuss; sie machte die Augen zu, fühlte sich wie Zunder, den der kleinste Funke entzünden konnte.
Doch der Funke blieb aus. Sie fühlte, wie seine enorme Hitze abklang, machte die Augen auf. In seinen Augen loderte die gleiche Leidenschaft, die sie in sich fühlte, aber er wich vor ihr zurück, als ob sie gefährlich wäre. Seine Brust hob und senkte sich wie nach einem Sprint.
Dann wandte er sich abrupt um, durchquerte mit langen Schritten den Raum, riss seinen Pulli von dem Stapel auf dem Boden und ging zur Tür.
»H-Henry«, stammelte sie, »wohin gehst du?«
»Weg!«, rief er und knallte die Tür hinter sich zu.
Cassie zuckte zusammen. Erschrocken lauschte sie seinem Getrampel durch den Korridor, die Treppe hinunter, drei Stufen auf einmal nehmend. Sie fuhr herum und sah, wie er durch den Vorgarten stürmte, das Gatter aufriss und in die Nacht verschwand.
»Henry!«, rief sie, doch er drehte sich nicht um.
Offenbar wollte er nur so schnell wie möglich von ihr weg.
Die Digitalanzeige auf dem Nachttischwecker stand auf 3:43, als er endlich zurückkam. Die Matratze senkte sich, und sie fühlte, wie seine enorme Körperhitze zu ihr hinübersickerte. Sie hatte kaum geschlafen, zu überdreht, zu nervös, zu ruhelos, war von unruhigen Träumen geplagt worden. Um Mitternacht war sie aufgestanden, um sich ein Glas Wasser zu holen, und hatte festgestellt, dass seine Seite der breiten Matratze noch immer leer war. Wo war er? Er war doch nicht wirklich fortgegangen?
Er rutschte ein wenig herum, bis er eine bequeme Stellung gefunden hatte. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Es kam ihr so laut vor, sie war sicher, dass er es fühlen musste, das Pochen, wie es durch die Bettfedern bis zu ihm hin vibrierte. Sie regte sich unbehaglich.
»Cass?« Er sprach leise, aber schon das eine Wort verriet ihr, dass er betrunken war. Sein Haar streifte über sein Kissen. Cassie erstarrte. Offenbar hatte er den Kopf zu ihr umgewandt.
Jetzt würde er sich sicher entschuldigen; er war diese Art Mann. Es war grob gewesen, die Tür so zuzuschlagen, sie allein sitzen zu lassen, in einer fremden Stadt, sich ihr zu nähern, als wäre er an ihr interessiert, wo er doch bloß ein alter Freund war, sie dazu zu bringen, dass sie ihn wollte, und sie dann einfach stehen zu lassen …
Seine Entschuldigung würde all dies umfassen, das wusste sie, die Einzelheiten würden allerdings nicht erwähnt werden. Aber sie wollte gar keine Entschuldigung. Nicht jetzt, wo er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt lag, sein Geruch sie streifte, auch wenn seine Hände es nicht taten.
Er drehte sich ganz zu ihr um. Sein Blick ruhte
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