Ein glücklicher Tag im Jahr 2381
Pioniere halten den Atem an, als sie zum erstenmal wirklich sehen, wie die Welt, in der sie geboren wurden und aufwuchsen, von oben aussieht. Die Türme sind schön, stellt Aurea fest. Sie glitzern im Licht des beginnenden Tages. Sie erstrecken sich weit und immer weiter, fünfzig von ihnen, wie ein Ring von Speeren, die aus einem grünen Teppich ragen. Sie ist sehr glücklich. Memnon legt seine Hand in die ihre. Sie zweifelt daran, daß sie sich jemals vor diesem Tag gefürchtet hat. Sie hat das Gefühl, sie müßte sich vor dem ganzen Universum für ihre Torheit entschuldigen.
Sie legt ihre freie Hand auf die leichte Wölbung ihres Leibs. Neues Leben sprießt jetzt in ihr. In jedem Augenblick teilen sich die Zellen, und das Kleine wächst. Sie haben die Stunde der Empfängnis errechnet: es war der Abend, an dem sie aus der Behandlung entlassen wurde. Konflikte machen unfruchtbar, das hat Aurea jetzt erkannt. Sie ist vom Gift ihrer früheren negativen Einstellung befreit worden; sie ist fähig, das gerechte Schicksal einer Frau zu erfüllen.
»Es wird so ganz anders sein«, sagt sie zu Memnon, »in einem noch so leeren Gebäude zu leben. Nur 250.000! Wie lange werden wir brauchen, um es zu füllen?«
»Zwölf oder dreizehn Jahre«, antwortet er. »Wir werden nur wenig Todesfälle haben, weil wir alle jung sind. Und viele Geburten.«
Sie lacht. »Gut. Ich hasse leere Häuser.«
Die Stimme des Schnellboots sagt: »Wir drehen nun nach Südosten ab. Wenn ihr jetzt nach links hinten seht, könnt ihr noch einen letzten Blick auf Urbmon 116 erhaschen.«
Ihre Mitreisenden strecken und wenden sich, um nach hinten zu sehen. Aurea verzichtet auf diese Anstrengung. Urbmon 116 bedeutet ihr nichts mehr.
3
Sie spielen heute nacht in Rom, in dem neuen Schallzentrum auf der 530. Ebene. Dillon Chrimes ist seit Wochen nicht mehr so weit nach oben gekommen. In der letzten Zeit haben er und die Gruppe die schmuddlige Tour gemacht, die auch sein muß, da unten bei den Proles: Reykjavik, Prag, Warschau. Naja, die haben auch ein Anrecht auf etwas Unterhaltung. Dillon selbst lebt in San Franzisko, auch nicht so hoch oben; die 370. Ebene: das Herz des Kulturghettos. Nicht, daß ihm das etwas ausmachen würde. Er hat seine Abwechslung. Er kommt überall herum, im Lauf eines Jahres von ganz unten bis zur Spitze, und es ist eigentlich gegen die statistische Wahrscheinlichkeit, daß sich in der letzten Zeit alles in den untersten Städten abgespielt hat. Nächsten Monat geht es bestimmt wieder nach Schanghai, Chikago, Edinburgh, zu dieser Sorte von Leuten, und zu all den sauberen, langgliedrigen Schönheiten, die sich nach der Show für ihn hinlegen werden.
Dillon ist siebzehn, mehr als mittelgroß, mit seidigem blondem Maar, das ihm bis auf die Schultern fällt. Die traditionelle alte Orpheus-Geschichte. Kristallblaue Augen. Er liebt es, sie in einer Anordnung von Polyspiegeln zu betrachten, zu sehen, wie die eisigen Kugeln ineinander dringen. Glücklich verheiratet und schon drei Kleine, Gott segne! Seine Frau heißt Elektra. Sie fertigt psychedelische Wandteppiche. Manchmal begleitet sie ihn, wenn er mit der Gruppe auf Tour geht, aber nicht oft. Im Augenblick nicht. Er ist bis jetzt nur einer Frau begegnet, die sein Feuer fast so stark entzünden kann. So eine feine Dame in Schanghai, die Frau eines Aufsteigers, der bald in Louisville landen wird. Mamelon Klüver ist ihr Name. Die anderen Mädchen des Urbmons, so sagt er sich manchmal, das sind einfach viele Öffnungen, aber Mamelon kann wirklich eine Verbindung zu ihm herstellen. Er hat Elektra noch nie von ihr erzählt. Eifersucht macht unfruchtbar.
Er spielt den Vibrastar in einer Kosmosgruppe. Das verleiht ihm eine ganz persönliche Bedeutung. »Ich bin einmalig«, pflegt er sich zu rühmen. »Wie eine von Hand geformte Statue.« Tatsächlich gibt es noch einen zweiten Vibrastar-Spieler im Gebäude, aber einer von zweien zu sein ist immer noch eine ganz anständige Sache. Es gibt nur zwei Kosmosgruppen im Urbmon 116; das Gebäude kann sich nicht übermäßig viele Unterhalter leisten. Dillon schätzt die rivalisierende Gruppe nicht besonders hoch ein, obwohl seine Einschätzung mehr auf Vorurteil denn Vertrautheit beruht – er hat sie insgesamt nur dreimal gehört. Es ist schon davon geredet worden, beide Gruppen zu einem gemeinsamen Konzert zusammenzubringen – zu einer Wahnsinnsschau, die die Köpfe leerfegen würde –, aber niemand nimmt solche Ankündigungen ernst.
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