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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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niederbrannte, weil ihm nichts anderes einfiel, um zu Ruhm zu gelangen. Also hörte und las man in unserer Literatur häufig Wendungen wie: „... der verbrecherische, herostratische Wahnsinn der konterrevolutionären Saboteure an den heroischen Anstrengungen der werktätigen Massen im Vaterland des Proletariats, den zweiten Fünfjahresplan in vier Jahren zu erfüllen . .. ".
    An seinem Vokabular und bevorzugten Klischees konnte man sofort feststellen, ob jemand trotzkistischer, reformistischer, brandleristischer, blanquistischer oder anderer Abweichungen schuldig war. Umgekehrt haben sich die Kommunisten durch ihren Wortschatz oft der Polizei und später der Gestapo verraten. Mir ist der Fall eines Mädchens bekannt, das von der Gestapo fast aufs Geratewohl geschnappt worden war und das sich, obwohl sonst keine Beweise vorlagen, durch das kleine Wort „konkret" verriet. Der Gestapo-Kommissar hatte sie gelangweilt angehört, schon halb überzeugt, daß seine Untergebenen mit ihrer Verhaftung einen Fehlgriff getan hätten – bis sie das fatale Wort zum zweiten Male gebrauchte. Der Kommissar spitzte seine Ohren: „Wo haben Sie diesen Ausdruck her?" wollte er wissen. Das Mädchen, das sich bis zu diesem Augenblick recht gut in der Gewalt gehabt hatte, begann zu stottern; und nachdem man einmal Verdacht geschöpft hatte, war sie verloren.
    Ebenso wurde unser literarischer, künstlerischer und musikalischer Geschmack umdressiert und „neu ausgerichtet". Lenin hatte irgendwo gesagt, er habe aus den Romanen Balzacs mehr über Frankreich gelernt als aus allen Geschichtsbüchern zusammengenommen. Also war Balzac der größte Schriftsteller aller Zeiten, während andere Romanciers der Vergangenheit nur „die verzerrte Welt der verfaulenden Gesellschaftsordnung widerspiegelten, deren gesellschaftliches Produkt sie waren". An der Kunstfront galt in dieser Periode die „Revolutionäre Dynamik" als Leitprinzip. Ein Bild, auf dem kein rauchender Schornstein oder ein Traktor zu sehen war, war eine „Ablenkung vom Klassenkampf". Aber diese Linie ließ wenigstens doch dem Kubismus, dem Expressionismus und anderen experimentellen Stilen genügend Raum. Das sollte einige Jahre später anders werden, als die „Revolutionäre Dynamik" dem „Sozialistischen Realismus" Platz machte; von diesem Augenblick an wurde alles Moderne und Experimentelle als „bürgerlicher Formalismus" gebrandmarkt, der die „faulige Korruption des kapitalistischen Verfalls" zum Ausdruck bringe. In der Musik wie auf dem Theater wurde damals der Chor als höchste Ausdrucksform angesehen; weil er, im Gegensatz zum bürgerlich-individualistischen, ein kollektives Element verkörperte. Da die dramatische Einzelfigur nicht völlig von der Bühne verbannt werden konnte, mußte sie stilisiert, typisiert und entpersönlicht werden (siehe Meyerhold, Piscator, Brecht, Auden, Isherwood, Spender). Die Psychologie wurde auf erfreuliche Weise vereinfacht; es gab im Grunde bloß zwei anerkannte Gefühlsimpulse: Klassensolidarität und Sexualtrieb. Alles übrige galt entweder als „bürgerliche Metaphysik" oder, wie Ehrgeiz und Machtstreben, als „Produkt der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft".
    Was den Sexualtrieb anging, so waren wir uns, obwohl man ihn offiziell sanktioniert hatte, nicht ganz klar, welche Haltung wir ihm gegenüber einnehmen sollten. Die Monogamie und die Institution der Familie waren Produkte des überlebten Wirtschaftssystems; sie förderten Individualismus und Heuchelei, waren eine Ablenkung vom Klassenkampf und daher grundsätzlich abzulehnen; die bürgerliche Ehe war lediglich eine von der Gesellschaft sanktionierte Form der Prostitution. Aber die Freie Liebe war ebenfalls nichts Gutes. Sie hatte sich in der Partei, sowohl in Sowjetrußland wie in den anderen Ländern, großer Beliebtheit erfreut, bis Lenin schließlich seine berühmte Erklärung gegen die „Glas-Wasser-Theorie" abgab. [5] Mithin war die bürgerliche Moral zu verwerfen, aber die Freie Liebe war ebenfalls zu verwerfen, und die einzige korrekte, konkrete Haltung gegenüber dem Sexualtrieb war die „proletarische Moral". Diese bestand darin, sich brav zu verheiraten, seinem Ehegespons die Treue zu halten und soviel proletarische Kinder als möglich zu erzeugen. Aber war das denn nicht dasselbe wie die bürgerliche Moral? – Diese Frage, Genosse, zeigt, daß du in mechanistischen und nicht in dialektischen Begriffen denkst. Was ist der Unterschied zwischen einer Pistole in

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