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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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Aufnahme in die Partei wie bei den regelmäßigen Säuberungsaktionen ein ebenso gewichtiger Faktor wie der arische Stammbaum bei den Nationalsozialisten. Der Typ der Idealproleten waren die russischen Fabrikarbeiter, und die Elite der letzteren waren die Arbeiter der Leningrader Putilow-Werke und der Ölfelder von Baku. In allen Büchern, die wir lasen oder schrieben, war der ideale Proletarier stets breitschultrig, mit einem offenen Gesicht und einfachen Zügen dargestellt; er hatte ein vollentwickeltes Klassenbewußtsein und einen wohlbeherrschten Sexualtrieb; er war stark und schweigsam, warmherzig, aber wenn nötig auch hart; er hatte große Füße, schwielige Hände und eine tiefe Stimme, mit der er revolutionäre Lieder sang. Proletarier, die nicht Kommunisten waren, waren keine echten Proletarier – sie gehörten entweder zum Lumpenproletariat oder zur Arbeiteraristokratie. Keine Bewegung kann ohne einen heroischen Archetypus legen: Genosse Iwan Iwanowitsch von den Putilow-Werken war unser Buffalo Bill.
    Ein Angehöriger der Intelligenz konnte niemals ein richtiger Proletarier werden, aber es war seine Pflicht, sich soweit wie möglich darum zu bemühen. Einige versuchten es, indem sie auf die Krawatte verzichteten, Rollkragenpullover und schwarze Ränder an den Fingernägeln trugen. Das wurde jedoch verurteilt; es war Snobismus und Hochstapelei. Der richtige Weg bestand darin, nichts zu schreiben, zu sagen oder vor allem zu denken, was nicht jeder Müllkutscher verstehen konnte. Wir warfen wie Passagiere auf einem sinkenden Schiff alles geistige Gepäck fort, bis es auf das unbedingt erforderliche Minimum an gängigen Phrasen, dialektischen Klischees und marxistischen Zitaten zusammengeschrumpft war, aus dem das internationale Djugaschwili-Rotwelsch besteht. Das verwerfliche Privileg, eine bürgerliche Erziehung genossen zu haben, die Fähigkeit, einem Problem mehr als eine Seite abgewinnen zu können, wurde zum Anlaß ständiger Selbstvorwürfe. Wir sehnten uns verzweifelt nach der heiligen Einfalt des Genossen Iwan Iwanowitsch. Geistige Selbstkastration war ein geringer Preis für das Glück, ihm auch nur entfernt ähnlich zu sein.
     
     
    Was ist eine Diskussion?
     
    Aber zurück zum Leben in unserer Zelle. Die Versammlungen begannen, wie schon gesagt, mit einem politischen Referat – zuweilen waren es auch zwei –, in dem die Parteilinie festgelegt wurde. Dem folgte eine Diskussion, aber eine Diskussion etwas merkwürdiger Art. Es ist ein Grundgesetz der kommunistischen Disziplin, daß jede Kritik an einem Parteibeschluß, sobald dieser gefaßt ist, als abweichlerische Sabotage anzusehen ist. Rein theoretisch ist es statthaft, vor einer Entscheidung über diese zu diskutieren. Da aber alle Entscheidungen von oben herab getroffen werden, gleichsam aus dem blauen Himmel, ohne daß irgendeine Körperschaft der Mitgliedermassen befragt würde, sind die Massen jeden Einflusses auf die Politik der Führung beraubt und sogar der Möglichkeit, ihre Meinung darüber auszudrücken; während die Führung andererseits kein Mittel besitzt, die Stimmung der Massen zu erkunden. Eine der Losungen in der KPD lautete: „An der Front wird nicht diskutiert." Eine andere besagte: „Wo immer ein Kommunist sein mag, er ist immer an der Front."
    Dementsprechend zeichneten sich unsere Diskussionen stets durch völlige Einstimmigkeit der Ansichten aus, und ihr Verlauf war, daß ein Zellenmitglied nach dem anderen aufstand und in gutem Djugaschwilesisch zustimmende Variationen zu dem vom Referenten angeschlagenen Thema vortrug. Aber „vortragen" ist hier wohl nicht (49 treffende Wort. Wir bemühten unseren Geist verzweifelt, nicht nur Rechtfertigungen für die festgelegte Parteilinie zu finden, sondern auch uns selbst zu beweisen, daß wir schon immer der geforderten Meinung gewesen waren; und in den meisten Fällen gelang uns das auch. Ich mag zuerst etwas befremdet gewesen sein, als uns eines Tages vom Instruktor mitgeteilt wurde, daß bei den kommenden Wahlen zum Preußischen Landtag die Hauptlosung der Partei nicht die sieben Millionen deutschen Arbeitslosen oder die von den Braunhemden drohende Gefahr sein würden, sondern die „Verteidigung des chinesischen Proletariats gegen die Aggression der japanischen Piraten". Aber ich bin mir heute nicht einmal mehr sicher, ob ich wirklich befremdet war. Sicher ist nur, daß ich aufrichtigen Herzens ein beredtes Wahlflugblatt verfaßte, das den Nachweis führte, warum die

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