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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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hat.
    Ich war noch ein Kind von fünf Jahren. Eines Sonntags, als ich an der Hand meiner Mutter über den kleinen Marktplatz meines Heimatdorfes ging, wurde ich Zeuge des sinnlosen und grausamen Schauspiels, wie einer unserer Junker seinen Hund auf eine arme kleine Frau hetzte, eine Schneiderin, die gerade aus der Kirche kam. Die Unglückliche wurde zu Boden geworfen und schwer verletzt, ihre Kleider wurden zerfetzt. Das ganze Dorf war empört, aber keiner wagte, den Mund aufzumachen. Ich habe nie begriffen, warum die arme Frau auf den unglücklichen Gedanken kam, eine Klage gegen den unedlen Junker anzustrengen. Denn zu ihrem bisherigen Schaden kam nun noch die Verhöhnung der Justiz. Obwohl sie – ich muß es wiederholen – von jedermann bemitleidet und von vielen unterstützt wurde, fand die Unglückliche weder einen Zeugen, der die Wahrheit vor dem Amtsrichter ausgesagt hätte, noch einen Anwalt, um ihre Klage zu vertreten. Dagegen waren der Verteidiger des Junkers (ein Rechtsanwalt, den man als politisch linksstehend betrachtete), und einige gedungene Zeugen pünktlich zur Stelle. Diese gaben unter Eid eine ganz große Version des Vorfalls, indem sie die Frau beschuldigten, den Hund gereizt zu haben. Der Amtsrichter, im Privatleben ein sehr würdiger und ehrbarer Mann, sprach den Junker frei und verurteilte die arme Frau zu den Gerichtskosten.
    Er habe das mit großem Bedauern getan, entschuldigte er sich einige Tage später in unserem Hause. „Mein Ehrenwort, glauben Sie mir, es ist mir sehr unangenehm gewesen. Hätte ich selber als Privatperson dem widerwärtigen Vorfall beigewohnt, so hätte ich ihn verwerflich finden müssen. Als Richter jedoch mußte ich mich an das vorliegende Beweismaterial halten. Und das sprach leider für den Hund." – „Ein gerechter Richter", so pflegte er gern zu argumentieren, „muß seine eigenen egoistischen Gefühle zum Schweigen bringen können und unparteiisch sein." „Gewiß", stimmte meine Mutter zu. „Es ist ein schreckliches Gewerbe. Es ist besser, man kümmert sich nur um seine eigenen Angelegenheiten. Mein Sohn", sagte sie dann zu mir, „wenn du groß bist, werde was du willst, nur nicht Richter."
    Ich erinnere mich noch an eine Reihe ähnlicher kleiner Begebenheiten. Aber ich möchte nicht mit dergleichen Geschichten den Anschein erwecken, als ob bei uns die heiligen Begriffe Gerechtigkeit und Wahrheit ganz ignoriert oder verachtet worden wären. Im Gegenteil. In der Schule, in der Kirche und in der Öffentlichkeit wurde sehr oft und mit höchster Beredsamkeit und Verehrung darüber gesprochen. Allerdings bediente man sich dabei stets recht abstrakter Ausdrücke. Um unsere seltsame Situation zu kennzeichnen und Mißverständnissen vorzubeugen, muß ich hinzufügen, daß sie auf einer Täuschung basierte, über die sich alle, sogar die Kinder, im klaren waren. Und doch trat keine Änderung ein. Sie beruhte also auf etwas anderem als der Dummheit und Unwissenheit der Menschen.
    Ich erinnere mich z. B. einer lebhaften Diskussion, die eines Tages im Religionsunterricht zwischen den Kommunikanten und dem Pfarrer entstand. Sie war durch eine Marionettenaufführung verursacht worden, die wir mit unserem Pfarrer am Tage vorher besucht hatten. Das Stück handelte von den dramatischen Abenteuern eines vom Teufel verfolgten Kindes. In einer Szene hatte sich das vor Angst zitternde Marionetten-Kind, um den Nachstellungen des Teufels zu entgehen, unter einem Bettchen versteckt, das in einer Ecke der Bühne stand. Kurz danach war plötzlich der Marionetten-Teufel erschienen und hatte das Kind vergeblich gesucht. „Und doch muß es hier sein", sagte der Marionetten-Teufel. „Ich rieche es. Ich will die wackeren Zuschauer fragen." Damit wandte er sich an uns: „Meine lieben Kinder, habt ihr vielleicht gesehen, wo sich der unartige kleine Junge versteckt hat, den ich suche?" – „Nein, nein, nein", antworteten wir alle im Chor, ohne zu zögern und mit größtem Nachdruck. „Wo finde ich ihn denn? Warum sehe ich ihn nicht?" fragte hartnäckig der Teufel. „Er ist fortgegangen, abgereist", antworteten wir ihm, „er ist nach Lissabon gefahren." (In der Sprache und den Sprichwörtern meiner Heimat ist Lissabon der fernste Punkt auf der Welt.) Ich muß hinzufügen, daß keiner von uns, als er in die Vorstellung hineinging, darauf gefaßt war, von einem Marionetten-Teufel derart ausgefragt zu werden. Unsere Reaktion war demnach instinktiv und spontan. Ich glaube, daß in

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