Ein Gott der keiner war (German Edition)
jedem beliebigen anderen Land der Welt die Kinder angesichts der gleichen Szene auf dieselbe Weise reagieren würden. Aber unser Pfarrer, ein sehr würdiger, gebildeter und frommer Mensch, war nicht ganz zufrieden mit uns. Wir hatten gelogen, so stellte er mit Besorgnis fest. Wir hatten es in guter Absicht getan, gewiß, aber es blieb doch immer eine Lüge. Man darf nicht lügen. „Auch nicht vor dem Teufel?" fragten wir ihn überrascht. „Eine Lüge ist immer eine Sünde", antwortete uns der Pfarrer. „Auch vor dem Amtsrichter?" fragte ein Junge. Der Pfarrer rügte uns streng. „Ich bin hier, um euch die christliche Lehre beizubringen und nicht, um mit euch zu schwatzen", sagte er. „Was sich außerhalb der Kirche ereignet, interessiert mich nicht." Und er erklärte uns noch einmal mit sehr schönen Worten das Wesen von Wahrheit und Lüge. Uns Kinder jedoch interessierte an diesem Tage nicht die Lüge im allgemeinen. Wir wollten wissen: „Durften wir dem Teufel das Versteck des Kindes verraten, ja oder nein?" – „Darum geht es nicht", sagte der in die Enge getriebene Pfarrer. „Die Lüge ist immer eine Sünde. Sie kann eine große Sünde sein, eine weniger große, eine mittelmäßige oder eine sehr kleine, aber sie ist immer eine Sünde. Man muß die Wahrheit ehren." – „Die Wahrheit ist", sagten wir, „daß auf der einen Seite der Teufel stand, auf der anderen das Kind." „Wir wollten dem Kind helfen, das ist die Wahrheit.« – „Aber ihr habt gelogen", wiederholte der Pfarrer. „Zu einem guten Zweck, das erkenne ich an, aber es bleibt eine Lüge." Um die Sache zu beenden, machte ich einen für mein Alter ziemlich frühreifen und unerhört frechen Einwand. Ich fragte: „Wenn es statt um ein Kind um einen Priester gegangen wäre, was hätten wir dem Teufel dann antworten sollen?" Der Pfarrer wurde rot und wich der Antwort aus. Er befahl mir, zur Strafe für meine Unverschämtheit den Rest der Unterrichtsstunde zu seinen Füßen zu knien. „Bereust du?" fragte er mich zum Schluß der Stunde. „Gewiß", antwortete ich ihm. „Wenn der Teufel mich nach Ihrer Adresse fragt, werde ich sie ihm ohne weiteres geben."
Es war natürlich ungewöhnlich, daß man im Religionsunterricht in dieser Weise diskutierte, obwohl man im Kreise der Familie oder unter Freunden ziemlich häufig vorurteilslos miteinander sprach. Trotz dieser geistigen Aufgewecktheit änderten sich jedoch die demütigenden und primitiven Formen unseres sozialen Lebens keineswegs.
Immerhin hatte die sogenannte Demokratie einige Zeit zuvor eine Neuerung in das Verhältnis zwischen Bürger und Staat eingeführt: die geheime Wahl Sie ergab ab und zu überraschende und, was die öffentliche Ordnung angeht, skandalöse Ergebnisse. Sie blieben zwar vereinzelt und ohne Folgen, waren aber nichtsdestoweniger besorgniserregend.
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Ich war ungefähr sieben Jahre alt, als sich in meiner Heimat der erste Wahlkampf abspielte, an den ich mich erinnern kann. Damals gab es bei uns noch keine politischen Parteien, und deshalb wurde die Ankündigung des Wahlkampfes nur mit geringem Interesse aufgenommen. Groß war jedoch die allgemeine Aufregung, als bekannt wurde, daß kein Geringerer als „der Fürst" zu den Kandidaten zählte. Wer der Fürst war,, wußte jedermann, ohne daß ein Vor- oder Zuname genannt zu werden brauchte. Es war der Besitzer eines großen Lehngutes, das durch unrechtmäßige Inbesitznahme riesiger, bei der teilweisen Trockenlegung des Fucino-Sees gewonnener Gebiete im vorigen Jahrhundert zustande gekommen war. Etwa 8000 Familien (d. h. die Mehrheit der örtlichen Bevölkerung) bebauen noch heute die 14 000 Hektar des Gutes. Von diesen „seinen" Familien also geruhte der Fürst als Abgeordneter ins Parlament gewählt zu werden. Seine Agenten begleiteten diese Nachricht mit einer kleinen „liberalen" Rede. „Natürlich", sagten sie, „kann keiner gezwungen werden, den Fürsten zu wählen, das versteht sich; ebensowenig kann man aber den Fürsten zwingen, jemanden auf seinen Feldern arbeiten zu lassen, der gegen ihn wählt. Wir leben im Zeitalter der wahren Freiheit für alle: ihr seid frei, und der Fürst ist auch frei." Diese „liberalen" Gedankengänge lösten unter den Bauern begreiflicherweise allgemeine Bestürzung aus. Denn der Fürst, man kann es sich leicht vorstellen, war die bestgehaßte Person in unserer Gegend. Solange er unsichtbar auf dem Olymp der großen Feudalherren gethront hatte (keiner der 8000
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