Ein Gott der keiner war (German Edition)
kleinen schwarzen Stock und ein Handköfferchen. Niemand kannte ihn. Er sagte, er sei Augenarzt und kandidiere gegen den Fürsten. Es hatten sich einige Neugierige um ihn versammelt, meist Kinder und junge Frauen ohne Stimmrecht Unter den Kindern war auch ich, in meinen kurzen Höschen, Schulhefte unter dem Arm. Wir baten den Alten, uns eine Rede zu halten, worauf er uns zurief: „Erinnert eure Eltern daran, daß die Wahl geheim ist. Nichts weiter." Dann sagte er: „Ich bin arm; ich lebe von meiner Arbeit als Arzt. Aber wenn irgendeiner kranke Augen hat, so heile ich ihn gern umsonst." Infolgedessen brachten wir ihm eine alte Obstverkäuferin, die kranke Augen hatte. Er reinigte ihr die Augen, gab ihr ein kleines Fläschchen mit Tropfen und erklärte ihr die Anwendung. Dann sagte er nochmal zu den Anwesenden – es war nur eine Gruppe von Kindern —: „Erinnert eure Eltern daran, daß die Wahl geheim ist!" und ging davon. Aber die Wahl des Fürsten war ja so sicher, da ihn doch festlich gestimmte Menschenmengen auf seiner Wahlreise begrüßt hatten, daß die Behörden und die Gutsverwaltung schon im voraus ein ganzes Programm für die Feier dieses unfehlbaren Sieges angekündigt hatten.
Mein Vater verzichtete darauf, für den einen oder anderen Kandidaten Partei zu ergreifen, weil er es seinen Brüdern versprochen hatte. Aber es gelang ihm, in den Wahlvorstand aufgenommen zu werden, der die Stimmen zählte. Wie groß war nun die Überraschung aller, als bekannt wurde, daß sich bei der geheimen Wahl die überwiegende Mehrheit der Wähler gegen den Fürsten und für den unbekannten Augenarzt entschieden hatte! Es gab einen großen Skandal: die Behörden bezeichneten das Verhalten der Wählerschaft rundheraus als einen schändlichen Verrat. Doch hatte er ein solches Ausmaß, daß der Gutsverwaltung jede Möglichkeit zu Repressalien gegen einzelne Bauern genommen war.
In der Folge ging das soziale Leben in seinen gewohnten Formen weiter. Niemand fragte sich: Warum kann sich der freie Wille der Bürger nur sporadisch kundtun? Warum könnte man nicht, unterstützt von diesem Willen, das öffentliche Leben auf eine bleibende und dauerhafte Weise reorganisieren? Doch sollte man die soeben von mir erzählte Episode nicht falsch interpretieren. Es wäre auf jeden Fall unrichtig anzunehmen, daß das größte Hindernis die Angst war.
Die Menschen meiner Heimat waren nie feige, schlapp oder nachgiebig. Das strenge Klima, die schwere Arbeit und die herben Bedingungen des Lebenskampfes haben diesen Menschenschlag zum zähesten, härtesten und widerstandsfähigsten des italienischen Volkes gemacht. Und in der Tat stehen in unserer politischen Chronik nicht nur überraschende geheime Wahlergebnisse, sondern auch zahlreiche Aufstände verzeichnet. Sie waren zwar kurz und lokal begrenzt, doch sie richteten heftige, wilde Zerstörungen an. Diese gedemütigten und beleidigten Geschöpfe waren imstande, die schlimmsten Gewalttaten zu ertragen, ohne sich zu beklagen. Aber auf einmal explodierten sie dann, und meist bei den unvorhergesehensten Gelegenheiten.
Mein Geburtsort hatte damals ungefähr 5000 Einwohner. Die öffentliche Ordnung wurde von etwa zwanzig Karabinieri unter Führung eines Leutnants aufrechterhalten. Allein diese hohe Zahl ist schon recht aufschlußreich. Zwischen den Soldaten und den Karabinieri bestand im ersten Weltkrieg kein besonders gutes Einvernehmen. Denn die Karabinieri taten Dienst in der Etappe, und einige sollen sich im Innern des Landes etwas zu eingehend um die Frauen und Bräute der abwesenden Soldaten gekümmert haben. In den kleinen Orten konnte man aus diesem Klatsch oft sehr genaue persönliche Hinweise heraushören. Eines Abends geschah es nun, daß drei Soldaten, die auf einen kurzen Fronturlaub nach Hause gekommen waren, aus Eifersucht einen Wortwechsel mit einigen Karabinieri hatten und darauf von diesen verhaftet wurden. Diese Maßnahme war schon von vornherein lächerlich, aber sie nahm einen geradezu ungeheuerlichen Charakter an, als der Kommandant der Karabinieri entschied, den Urlaub der drei Soldaten aufzuheben und sie an die Front zurückzuschicken. Einer von ihnen war ein Freund von mir (er ist später gefallen), und seine alte Mutter kam weinend zu mir, um mir von der ungerechten Behandlung ihres Sohnes zu berichten. Der Bürgermeister, der Amtsrichter und der Pfarrer, die ich bat, sich für die drei zu verwenden, hielten sich für unzuständig. „Wenn es so steht", erklärte ich
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