Ein Gott der keiner war (German Edition)
darauf, „bleibt uns nur noch die Revolution !"
Wir gebrauchten diesen fatalen historischen Ausdruck auch dann, wenn nur eine einfache heftige Demonstration gemeint war. Im Kriege zum Beispiel hatte es in meinem Geburtsort schon zwei „Revolutionen" gegeben: die erste gegen die Stadtverwaltung wegen der Rationierung des Brotes, die zweite gegen die Kirche, weil der Sitz des Bischofs in eine andere Gemeinde verlegt worden war. Die dritte „Revolution", von der ich eben erzähle, hieß später in den Chroniken die „Revolution der drei Soldaten". Die drei sollten um siebzehn Uhr zum Zug gebracht werden, also sollte die Revolution eine halbe Stunde früher vor der Kaserne stattfinden. Unglücklicherweise nahm sie einen ernsteren Verlauf, als wir beabsichtigt hatten. Sie begann wie ein Scherz. Drei Jungen genügten, um das Ganze in Szene zu setzen. Der eine mußte auf den Kampanile steigen, um mit der großen Glocke Sturm zu läuten, wie man es bei uns bei einem Großfeuer oder einer anderen öffentlichen Gefahr zu tun pflegt. Die anderen beiden mußten den Bauern, die von dem Sturmgeläut alarmiert sofort ihre Feldarbeit verlassen hatten und keuchend in den Ort gelaufen kamen, erklären, was los war.
Innerhalb von wenigen Minuten hatte sich vor der Kaserne eine drohende und aufrührerische Menge versammelt. Vom Schreien ging man schnell zu Steinwürfen über, und dann ertönten Schüsse. Die Belagerung der Kaserne dauerte bis in die späte Nacht. Meine Landsleute waren in ihrer Wut nicht wiederzuerkennen. Schließlich wurden Fenster und Türen der Kaserne aufgebrochen. Die Karabinieri flüchteten im Schutz der Dunkelheit querfeldein, und die drei Soldaten, an die niemand mehr dachte, gingen unbeobachtet nach Hause. So blieben wir Jungen für eine ganze Nacht absolute Herren der Lage. „Was machen wir jetzt?" wollten die anderen Jungen von mir wissen. (Meine Autorität beruhte vor allem darauf, daß ich Latein konnte.) „Morgen früh", sagte ich, „wird das Dorf höchstwahrscheinlich von Hunderten von Bewaffneten, Karabinieri und Polizeispitzeln aus Avezzano, Sulmona, Aquila und vielleicht sogar aus Rom zurückerobert werden." – „Aber was machen wir heute nacht, ehe sie kommen?" wollten die anderen Jungen von mir wissen. Ich glaubte, ihren Wunsch zu erraten und sagte: „Eine einzige Nacht genügt wohl nicht, um eine neue Ordnung zu schaffen." – „Könnte man nicht die Tatsache ausnutzen, daß das ganze Dorf schläft, um den Sozialismus einzuführen?" Das dachten sie wohl vielleicht nur in der Erregung des aufruhrdurchtobten Abends, vielleicht auch, weil sie wirklich glaubten, daß in diesem Augenblick alles möglich war. Zu meiner Rechtfertigung muß ich heute sagen, daß die Theorie zur Einführung des Sozialismus in einer einzigen Nacht damals noch nicht ausgearbeitet vorlag. „Jedenfalls kann man in einer einzigen Nacht noch einmal im eigenen Bett schlafen, ehe wir ins Gefängnis müssen", meinte schließlich einer von uns. Und da wir alle müde waren, fanden wir diesen Rat verständig und zweckmäßig.
Aufstände dieser Art, denen unvermeidlich Massenverhaftungen, Prozesse, Gerichtskosten und Verurteilungen folgten, bestärkten die Bauern, wie man sich leicht denken kann, in ihren Bedenken, ihrem Mißtrauen und ihren Zweifeln. Der Staat wurde für sie zu einem unabänderlichen Teufelswerk. Ein guter Christ vermied darum so weit wie möglich jeden Kontakt mit dem Staat, um sein Seelenheil nicht zu gefährden. Der Staat ist immer Dieb, Verbrecher, Räuber, und kann nichts anderes sein. Weder Gesetze noch Gewalt können ihn ändern. Nur manchmal straft ihn Gott.
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Im Jahre 1915 zerstörte ein sehr heftiges Erdbeben einen großen Teil unserer Provinz und tötete in dreißig Sekunden etwa fünfzigtausend Menschen. Ich war überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit meine Landsleute die schreckliche Katastrophe hinnahmen. Die komplizierten Erklärungen der Geologen, die in den Zeitungen veröffentlicht wurden, fanden nur Verachtung. In einem Lande wie dem unseren, wo so viele Ungerechtigkeiten ungesühnt blieben, schienen die häufig auftretenden Erdbeben für sie ein Phänomen darzustellen, das keiner weiteren Erklärung bedurfte. Sie wunderten sich sogar, daß diese Erdbeben nicht noch häufiger waren. Beim Erdbeben starben unter den einstürzenden Häusern ohne Unterschied Reiche und Arme, Gebildete und Analphabeten, Obrigkeit und Untertan. Und hier liegt die eigentliche Erklärung
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