Ein Gott der keiner war (German Edition)
nichts. Die Ingenieure, die ich als Diebe und Banditen bezeichnet und genau spezifizierter Vergehen beschuldigt hatte, machten nicht einmal den Versuch, sich zu rechtfertigen oder auch nur ein allgemein gehaltenes Dementi zu veranlassen. Und nach kurzer Zeit wandte sich jedermann wieder den eigenen Angelegenheiten zu.
Selbst die wohlwollendsten Betrachter hatten mich – den Pennäler, der es wagte, der hohen Obrigkeit den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen – bestenfalls als einen impulsiven und wunderlichen Knaben angesehen. Man muß bedenken, daß die wirtschaftliche Armut der südlichen Provinzen der Jugend, die jedes Jahr zu Tausenden die Schule verläßt, nur geringe berufliche Aufstiegsmöglichkeiten offen läßt. Unsere einzige große Industrie ist der Staatsapparat, der keine allzugroßen geistigen Anforderungen stellt, sondern lediglich einen fügsamen Charakter und politische Anpassungsfähigkeit verlangt. Die jungen Süditaliener, die in einem Milieu wie dem eben geschilderten aufwachsen, neigen natürlich, sofern sie nur ein Minimum menschlicher Empfindungen haben, zu Anarchie und zu Rebellion. Eine Staatsanstellung bedeutet für sie schon in der Jugend Verzicht, Kapitulation und Demütigung. Deshalb pflegt man auch zu sagen: mit zwanzig Anarchist, mit dreißig Konservativer. Die Erziehung, die man in den öffentlichen oder privaten Schulen genießt, ist auch keineswegs darauf gerichtet, den Charakter zu stärken. Den größten Teil meiner Schulzeit habe ich in privaten katholischen Instituten verbracht. Der humanistische Unterricht, der dort erteilt wurde, war ausgezeichnet; die Erziehung zum sittlichen Menschen war einfach und sauber, aber die Erziehung zum Staatsbürger war ausgesprochen schlecht. Unsere Geschichtslehrer nahmen dem offiziellen Konformismus gegenüber eine offen kritische Haltung ein. Der Mythos des Risorgimento beispielsweise und seine großen Helden, wie Mazzini, Garibaldi, Viktor Emanuel II. und Cavour, wurden verhöhnt und verleumdet, die zeitgenössische Literatur – Carducci und d'Annunzio – verächtlich gemacht. Soweit dieser Unterricht dazu angetan war, den kritischen Verstand der Schüler zu entwickeln, hatte er gewisse Vorteile, doch scheuten sich diese geistlichen Lehrer nicht – da wir ja unsere Prüfungen an den öffentlichen Schulen ablegen mußten und der Ruf und das Gedeihen der katholischen Institute von dem Resultat dieser Prüfungen abhingen – uns andererseits auch das genaue Gegenteil dessen beizubringen, was sie selber dachten, und uns ans Herz zu legen, bei den Examen diese Ansichten zu vertreten. Den Examinatoren der staatlichen Schulen, denen unsere Herkunft aus konfessionellen Schulen bekannt war, machte es deswegen besonderen Spaß, uns die heikelsten Fragen zu stellen und dann ziemlich ironisch ob der liberalen Vorurteilslosigkeit zu loben, die wir aus unserem Unterricht mitgebracht hatten. Diese ganze Erziehung war durch eine so grenzenlose Falschheit, Heuchelei und Doppelzüngigkeit gekennzeichnet, daß sie in jedem Menschen, dem nur die geringste Achtung vor der Kultur eingeboren war, eine begreifliche Verwirrung anrichten mußte.
Der Arzt aus einem Nachbardorf erklärte mir des öfteren: „Wer hier geboren wird, ist wirklich vom Unglück geschlagen. Es gibt hier keinen Mittelweg: entweder muß man sich auflehnen oder mitschuldig werden." Er lehnte sich auf. Er wurde Anarchist. Er hielt vor den armen Leuten Reden im Sinne Tolstois. Er war das Ärgernis der ganzen Gegend. Gehaßt von den Reichen, verlacht von den Armen und nur von einigen wenigen insgeheim bemitleidet. Schließlich wurde ihm der Posten des Gemeindearztes entzogen, und er starb buchstäblich den Hungertod.
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Ich bin mir darüber im klaren, daß mein geistiger Werdegang, so wie ich ihn hier nachgezeichnet habe, etwas zu geradlinig ausgefallen ist, um nicht schematisiert zu wirken. Wenn ich auf diesen Einwand zu sprechen komme, so nicht, um ihn zu widerlegen oder die absolute Wahrheit meiner Erklärungen zu beschwören. Ich kann nur ihre Aufrichtigkeit, nicht ihre Objektivität verbürgen. Ich selber bin manchmal über meine Altersgenossen erstaunt, wenn sie sich, beim Zurückdenken an unser Leben von damals, das uns in seiner Entfernung fast schon prähistorisch erscheint, entweder überhaupt nicht oder nur sehr schwach an Episoden erinnern können, die auf mich einen entscheidenden Einfluß ausgeübt haben, und dafür andere Umstände ganz
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