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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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deutlich in der Erinnerung behalten haben, die für mich unwichtig und unbedeutend sind. Sind diese Altersgenossen alle „unbewußte Mitschuldige"? Und welches Schicksal oder welche Tugend läßt uns in einem bestimmten Alter die schwere Wahl treffen, „Mitschuldiger” oder „Rebell" zu werden? Aus welchem Grunde treibt es einige Menschen mit unwiderstehlicher Macht, sich gegen jede Ungerechtigkeit aufzulehnen, auch wenn sie nur andere trifft? Woher kommen die plötzlichen Gewissensqualen, sich an einen gedeckten Tisch zu setzen, während die Nachbarn nichts haben, um ihren Hunger zu stillen? Woher der Stolz, mit dein man Elend und Kerker der Verachtung vorzieht?
    Ich weiß es nicht, und vielleicht weiß es niemand. Selbst das vollständigste und ehrlichste Bekenntnis wird an einem bestimmten Punkt zur bloßen Feststellung oder Beschreibung. Es ist keine Antwort. Jeder, der ernsthaft über sich selber und über andere nachgedacht hat, weiß, wie unerklärlich gewisse Entschließungen, wie geheimnisvoll und unkontrollierbar manche Anlagen der Persönlichkeit bleiben. Liebe und Haß trafen in meiner Auflehnung in einem bestimmten Punkte aufeinander, weil sowohl die Tatsachen, die meine Entrüstung rechtfertigen, als auch die sittlichen Beweggründe, die sie hervorriefen, ihren Ursprung in meiner Heimat hatten. So ist es auch zu erklären, daß alles, was ich bis jetzt geschrieben habe und wahrscheinlich alles, was ich noch schreiben werde, sich immer, trotz meiner Reisen innerhalb und außerhalb Italiens, auf dieselbe Gegend bezieht, oder genauer gesagt, auf das kleine Stück Land, das man von meinem Geburtshaus aus erblickt und das in beiden Richtungen nicht mehr als dreißig oder vierzig Kilometer mißt.
    Die ganze Abruzzenlandschaft hat keine nennenswerte geschichtliche Entwicklung erlebt und sich fast völlig christliche und mittelalterliche Lebensformen bewahrt. Außer Kirchen und Klöstern besitzt sie keine Baudenkmäler, und viele Jahrhunderte hindurch sind ihre Söhne bestenfalls als Heilige oder Steinmetze berühmt geworden. Der Kampf ums Dasein hat in diesem Lande immer besonders harte Formen angenommen. Der Schmerz galt hier schon immer als das oberste der Naturgesetze, und aus diesem Grunde wurde auch das Kreuz hier willkommen geheißen und verehrt. In diesem Erdenwinkel sind die naheliegendsten Formen der Auflehnung gegen das Schicksal stets das Franziskanertum und die Anarchie gewesen. Bei denen, die am meisten leiden, hat kein Zweifel je den alten chiliastischen Glauben an das kommende Reich Gottes auf Erden ersticken können, den alten Glauben, daß eines Tages die Barmherzigkeit an die Stelle des Gesetzes treten werde, den alten Traum von Gioacchino da Fiore, den Traum der „Spirituali" und der Zölestiner. Diese Tatsache ist von ganz wesentlicher Bedeutung: in einem so hoffnungslosen, unfruchtbaren, erschöpften und müden Lande wie dem unseren ist ein solcher Glaube ein echter Reichtum, eine wunderbare verborgene Kraft. Den Politikern bleibt sie verborgen, die Geistlichen fürchten sie und vielleicht wissen nur die Heiligen sie zu würdigen. Viel schwieriger jedoch, wenn nicht gar unmöglich, war es für uns, greifbare Mittel und Wege zu finden, um aus eigener Kraft auf revolutionärem Wege eine freie und gesunde Gesellschaft zu begründen.
    Diese Entdeckung glaubte ich nach meiner Übersiedlung in die Stadt bei der ersten Begegnung mit der Arbeiterbewegung gemacht zu haben. Es war eine Art Flucht, der Ausweg aus einer unerträglichen Einsamkeit, die Entdeckung eines neuen Erdteils. Aber es war nicht leicht, die moralische Auflehnung gegen eine veraltete, unannehmbare soziale Wirklichkeit mit den „wissenschaftlichen" Forderungen einer genau festgelegten politischen Lehre auf einen Nenner zu bringen.
    Der Eintritt in die Partei der proletarischen Revolution bedeutete für mich nicht lediglich, sich bei irgendeiner beliebigen politischen Partei einzuschreiben – er kam einer Bekehrung, einer grenzenlosen Hingabe gleich. Wenn man sich damals zum Sozialismus oder Kommunismus bekannte, so hieß das noch, sich dem Nichts entgegenzuwerfen, es hieß, mit den eigenen Verwandten zu brechen, es hieß, keine Stellung zu finden. Waren schon die materiellen Folgen hart und schwer, so waren die Schwierigkeiten der geistigen Anpassung nicht minder schmerzhaft. Von der eigenen inneren Welt war schließlich der erste Anstoß zum Aufruhr ausgegangen. Die eigene innere Welt, das ererbte und in der Seele

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