Ein Gott der keiner war (German Edition)
Sozialdemokratie verzichten zu können meinten (Brandler, Bringolf, Tasca); die extreme Linke, die sich gegen alle opportunistischen Konzessionen wandte (Bordiga, Ruth Fischer, Boris Souvarine).
Diese internen Krisen spielten sich so völlig außerhalb meines Bereiches ab, daß sie mich nicht weiter berührten. Ich erwähne das nicht etwa, weil ich stolz darauf bin – das Gegenteil ist der Fall —, sondern nur, weil ich versuchen will, meinen damaligen Geisteszustand zu erklären. Die wachsende Tyrannei und Bürokratie der Kommunistischen Internationale erfüllte mich zwar mit Widerwillen, doch ließen mich einige gewichtige Gründe immer wieder vor einem Bruch zurückschrecken: so unter anderem die Solidarität mit den ermordeten oder verhafteten Kameraden, der Umstand, daß es in Italien damals keine andere antifaschistische Organisation gab, der schnelle politische und, in einigen Fällen, auch moralische Verfall der vielen Abtrünnigen und schließlich die illusorische Hoffnung, daß im Falle einer inneren Krise des sowjetischen Regimes die Internationale am westlichen Proletariat wieder gesunden könne.
Zwischen 1921 und 1927 hatte ich mehrmals Gelegenheit, nach Moskau zu fahren und als Mitglied kommunistischer Delegationen an Kongressen und Versammlungen der Exekutive teilzunehmen. Was mir an den russischen Kommunisten, auch an wirklich ungewöhnlichen Persönlichkeiten wie Lenin und Trotzki, am stärksten auffiel, war ihr völliges Unvermögen, fair über eine entgegengesetzte Meinung zu diskutieren. Der Gegner war, nur weil er zu widersprechen wagte, von vornherein ein Verräter, ein Opportunist, ein Mann, der sich verkauft hatte. Einen gutgläubigen Gegner können sich die russischen Kommunisten einfach nicht vorstellen. Welche Verirrung ist es von seiten dieser sogenannten Materialisten und Rationalisten, wenn sie in ihren Polemiken mit so sicheren Worten den Primat des Sittlichen über die Intelligenz verkünden! Man muß bis zu den alten Ketzerprozessen der Inquisition zurückgehen, um ein ähnliches Maß kritikloser Verblendung anzutreffen. Als ich 1922 Moskau verließ, erklärte mir Alexandra Kollontai: „Falls du eines schönen Tages in der Zeitung lesen solltest, daß mich Lenin hat 'verhaften lassen, weil ich im Kreml silberne Löffel gestohlen habe, so heißt das nur, daß ich in irgendeiner unbedeutenden wirtschaftspolitischen Frage nicht ganz mit ihm einverstanden gewesen bin."
Die Kollontai hatte ihren Sinn für Ironie im Westen erworben und machte deshalb nur im Gespräch mit westlichen Freunden davon Gebrauch. Wie schwierig war es selbst damals, in den fiebrigen Jahren der Staatwerdung, als die neue Orthodoxie noch nicht alle Gebiete des kulturellen Lebens durchdrungen hatte, sich mit einem russischen Kommunisten über die einfachsten und für uns natürlichsten Fragen zu verständigen! Wie schwierig war Zustimmung oder wenigstens Verständnis zu finden, wenn man über die Bedeutung der Freiheit für den westlichen Menschen, auch für den Arbeiter, sprach! Ich erinnere mich noch, wie ich einer Direktorin des Staatsverlages einmal mehrere Stunden lang zu erklären versuchte, daß sie sich der entmutigenden und demütigenden Verhältnisse, unter denen die sowjetischen Schriftsteller schaffen, wenigstens zu schämen habe. Sie konnte mich einfach nicht begreifen. „Die Freiheit", mußte ich ihr durch Beispiele erläutern, „ist die Möglichkeit zu zweifeln, die Möglichkeit, sich zu irren, zu suchen und zu experimentieren, ist die Möglichkeit, jeder Autorität – sei es nun eine literarische, künstlerische, philosophische, religiöse, soziale oder gar politische Autorität – mit einem Nein zu antworten." „Aber das ist ja", murmelte die hohe Funktionärin des sowjetischen Kulturlebens entsetzt, „das ist ja konterrevolutionär." Dann fügte sie hinzu, wie um sich ein wenig zu revanchieren: „Wir sind glücklich, daß wir eure Freiheit nicht besitzen, statt dessen haben wir Sanatorien." Als ich sie darauf aufmerksam machte, daß der Ausdruck „statt dessen" hier ganz sinnlos sei, da die Freiheit schließlich kein Austauschprodukt sei, und daß ich außerdem Sanatorien auch schon in anderen Ländern gesehen hätte, lachte sie mir ins Gesicht. „Sie wollen sich wohl heute über mich lustig machen", sagte sie. Und ich war von ihrer Naivität so gerührt, daß ich nicht mehr zu widersprechen wagte.
Die Begeisterung, mit der die russische Jugend in den ersten Jahren an der Errichtung
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