Ein Gott der keiner war (German Edition)
eingewurzelte „Mittelalter", wurde nun wie durch ein Erdbeben bis zu den Fundamenten erschüttert. Mit einem Schlage war alles fragwürdig und problematisch geworden: Leben, Tod, Liebe, Gut und Böse, die Wahrheit, alles veränderte sein Wesen oder verlor es ganz. Es ist leicht, der Gefahr zu trotzen, wenn man nicht mehr allein ist. Aber wer vermag die heimliche Bestürzung zu schildern, die der endgültige Verzicht auf den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele auslöst? Das war ein zu ernsthaftes Dilemma, als daß ich mit irgend jemand darüber hätte sprechen können. Die Genossen von der Partei hätten mich ausgelacht, und andere Freunde hatte ich nun nicht mehr. So begann mir die Welt in einem völlig anderen Licht zu erscheinen. Was für ein bemitleidenswertes Geschöpf ist doch ein Mensch!
Mit dem faschistischen Staatsstreich begannen für die Kommunisten harte Zeiten, doch fanden wir gerade hierin eine Bestätigung für mehrere unserer politischen Thesen und die Gelegenheit, eine Organisationsform zu verwirklichen, die unserer besonderen Mentalität entsprach. So gewöhnte auch ich mich allmählich an den seltsamen Zustand, im eigenen Vaterland wie ein Fremder zu leben. Ich mußte den Namen wechseln, alle bisherigen Verbindungen familiärer oder freundschaftlicher Natur aufgeben und ein regelrechtes Scheindasein führen, um jeden Verdacht einer konspiratorischen Betätigung zu zerstreuen. Die Partei trat an die Stelle von Familie, Schule, Kirche und Kaserne; alles, was nichts mit der Partei zu tun hatte, mußte zerstört werden. Der psychologische Vorgang, der den einzelnen kommunistischen Kämpfer in zunehmendem Maße identisch mit dem ganzen Organismus der Partei werden läßt, gleicht aufs Haar den Mitteln, die von gewissen religiösen Orden und gewissen Kadettenanstalten angewandt werden, und zeitigt fast die gleichen Ergebnisse.
Jedes Opfer wurde als persönlicher Beitrag zum „Preis der Kollektiven Befreiung" begrüßt. Und die Fesseln, die uns an die Partei banden, wurden immer fester, nicht etwa trotz der mit ihr verbundenen Gefahren und Opfer, sondern im Gegenteil, gerade dank ihrer. Das erklärt auch die magische Anziehungskraft, die der Kommunismus auf bestimmte Kategorien junger Menschen ausübt, auf die Intellektuellen und auf alle sensiblen großzügigen Menschen, die unter der sinnlosen Vergeudung der bürgerlichen Gesellschaft am meisten leiden. Darum wäre es dumm und beschränkt anzunehmen, man könne die besten und ernsthaftesten jungen Leute dem Kommunismus abspenstig machen, indem man ihnen gutgeheizte Billardsäle zur Verfügung stellt.
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Es kann nicht wundernehmen, daß mich die ersten politischen Krisen, welche die Kommunistische Internationale erschütterten, noch ziemlich gleichgültig ließen. Ursache dieser Krisen war der Umstand, daß die wichtigsten Mitgliedsparteien, auch nach der formellen Annahme der einundzwanzig Bedingungen, die Lenin für die Aufnahme vorgeschrieben hatte, noch lange keine homogene Einheit bildeten. Sie waren sich zwar einig in der Ablehnung des imperialistischen Krieges und seiner Folgen wie auch in der Kritik an den reformistischen Ideen der Zweiten Internationale, im übrigen aber entsprachen sie in ihren guten und schlechten Eigenschaften genau den verschiedenen Entwicklungsstufen der einzelnen Länder. Deshalb bestanden zwischen dem russischen Bolschewismus, der in einem Lande herausgebildet worden war, das keine politische Freiheit und keine sozialen Abstufungen kannte, und den Gruppen der linksradikalen Sozialisten in den westlichen Ländern wesentliche Meinungsverschiedenheiten. So war die Geschichte der Kommunistischen Internationale eine Geschichte der Spaltungen und einer Reihe von Intrigen und Gewalttaten auf seiten der tonangebenden russischen Gruppe, die jeden Versuch der anderen angegliederten Parteien unterdrückte, eine unabhängige Meinung zu vertreten. Eine nach der anderen wurde gezwungen, mit der Komintern zu brechen: Die Strömungen, die am meisten an parlamentarischen und demokratischen Formen hingen (Frossard); die Gruppen, die legal und gewaltlos vorgehen wollten (Paul Levi); die liberalen Elemente, die sich noch Illusionen über die sowjetische Demokratie zu machen wagten (Roland-Holst); die revolutionären Gewerkschaftler, die sich weigerten, ihre Gewerkschaften der Bürokratie der Kommunistischen Partei zu unterwerfen (Pierre Monatte, Andre Nin); die Gruppen, die nicht auf jede Zusammenarbeit mit der
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