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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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Idee pochte dennoch weiter.

Zweiter Teil
    Erstes Kapitel
    I
    Ich überfliege einen Raum von fast zwei Monaten; der Leser sei unbesorgt: Der weitere Bericht wird alles erklären.: Einen Tag, den fünfzehnten November – einen für mich aus mehreren Gründen besonders bemerkenswerten Tag – möchte ich eigens hervorheben. Erstens: Niemand, der mich zuletzt vor zwei Monaten sah, hätte mich wiedererkannt: jedenfalls nicht von außen, das heißt, er hätte mich wohl erkannt, aber sich keinen Reim darauf machen können. Ich war nach der letzten Mode gekleidet – das war das erste. Jener »gewissenhafte Franzose mit Geschmack«, der mir einst von Werssilow empfohlen worden war, hatte mich nicht nur eingekleidet, sondern war von mir schon wieder abgeschrieben worden: Inzwischen nähen für mich andere Schneider, renommiertere, und die arbeiten für mich sogar auf Rechnung. Hin und wieder bekomme ich Rechnungen auch von einem bekannten Restaurant, aber hier bin ich noch vorsichtig und pflege sofort zu bezahlen, sobald ich wieder bei Kasse bin, obwohl ich weiß, daß dies mauvais ton ist und ich mich dadurch kompromittiere. Auf dem Newskij bin ich bevorzugter Kunde des französischen Friseurs, der mich, während ich mich von ihm frisieren lasse, durch Anekdoten unterhält. Zugegeben, ich übe mich mit ihm im Französischen. Ich kann zwar Französisch, sogar recht ordentlich, halte mich aber in großer Gesellschaft immer noch zurück, zumal auch meine Aussprache gewiß nicht gerade pariserisch klingt. Ich habe Matwej, einen schneidigen Mietkutscher, der mir mit seinem Traber stets zu Diensten steht, wann und wo ich es bestimme. Sein Hengst ist von einem hellen Braun (ich mag keine Schimmel). Natürlich gibt es auch Mißstände: Es ist der fünfzehnte November, schon seit drei Tagen herrscht winterliche Kälte. Mein Pelz aber ist abgetragen, ein Waschbär, von Werssilow geerbt: Würde ich ihn verkaufen, brächte er höchstens fünf- undzwanzig Rubel; ich brauche einen neuen, aber die Taschen sind leer, und außerdem brauche ich Geld für den heutigen Abend, und zwar unbedingt – sonst bin ich »unglücklich und verloren«; dies waren damals meine eigenen Worte. Oh, diese Niedrigkeit! Woher plötzlich diese Tausende, diese Traber und diese Borels? Wie konnte ich so plötzlich alles vergessen und mich so ändern? Schande! Mein Leser, hier beginnt die Geschichte meiner Schmach und meiner Schande, und nichts auf der Welt kann für mich beschämender sein als diese Erinnerung!
    Ich spreche jetzt wie ein Richter und weiß, daß ich schuldig bin. In jenem Strudel, in dem ich damals kreiste, war ich zwar allein, ohne Führer und Ratgeber, aber schon damals, das schwöre ich, war ich mir meiner Schmach voll bewußt und bin deshalb unentschuldbar. Indessen war ich diese ganzen zwei Monate nahezu glücklich – wieso nahezu? Ich war überglücklich! Sogar so glücklich, daß das Bewußtsein meiner Schmach, das hin und wieder (sehr oft!) meine Seele erbeben ließ, daß gerade dieses Bewußtsein – ist es zu glauben? – mich noch mehr berauschte: “Schmählich? Ja, aber dann erst recht; das ist nicht für ewig, ich komme schon wieder hoch! Über meinem Kopf steht ein glücklicher Stern!” Ich bin über einen dünnen Steg aus Spänen gelaufen, ohne Geländer, über einem Abgrund, voller Lust, so zu laufen; ich blickte sogar in den Abgrund. Es war ein Risiko und eine Lust. Und die »Idee«? Die »Idee« blieb für später, die Idee mußte warten; alles, was geschah – »war nur eine flüchtige Aberration«: “Warum sollte man sich diese Lust nicht gönnen?” Das war auch das Üble an »meiner Idee«, ich wiederhole es noch einmal, daß sie entschieden sämtliche Aberrationen zuließ; wäre sie nicht so starr und radikal gewesen, dann hätte ich unter Umständen vor einer Abweichung gezögert.
    Einstweilen hatte ich meine Behausung beibehalten, beibehalten, aber nicht bewohnt; dort stand mein Koffer, dort waren mein Kleidersack und einiges andere untergebracht; meine eigentliche Residenz war die Wohnung des Fürsten Sergej Sokolskij. Ich hielt mich tagsüber bei ihm auf, ich übernachtete auch dort, und so verging sogar eine Woche nach der anderen … Wie es dazu gekommen war, werde ich sogleich erzählen. Zunächst aber möchte ich einige Worte über diese Behausung sagen. Sie war mir bereits teuer geworden: Hier hatte mich Werssilow besucht, von sich aus, zum ersten Mal nach dem damaligen Zerwürfnis und auch danach noch

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