Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
waren sehr schlicht gekleidet, so daß es sich nicht lohnt, ihre Toilette zu beschreiben. Ich rechnete damit, daß ich im nächsten Moment durch einen Blick oder eine Geste der Werssilowa beleidigt würde; und ich bereitete mich darauf vor; hatte mich doch ihr Bruder in Moskau, bei der ersten Begegnung in unserem Leben, tief gekränkt. Sie kannte mich nicht von Ansehen, aber sie mußte natürlich gehört haben, daß ich beim Fürsten beschäftigt war. Alles, was der Fürst vorhatte oder unternahm, erweckte in diesem ganzen Haufen seiner Verwandten und »Harrenden« augenblicklich das allergrößte Interesse und galt als ein großes Ereignis – erst recht seine plötzliche Vorliebe für meine Person. Ich wußte definitiv, daß der Fürst sich für das Schicksal Anna Andrejewnas lebhaft interessierte und auf der Suche nach einem Bräutigam für sie war. Nur war es unvergleichlich schwerer, eine Werssilowa zu verheiraten, als jene, die Kanevas mit Kreuzstich bestickten.
Aber nun, wider alles Erwarten, richtete die Werssilowa, nachdem sie die Hand des Fürsten gedrückt und einige fröhliche, übliche Bemerkungen mit ihm getauscht hatte, einen ungemein neugierigen Blick auf mich und nickte mir lächelnd zu, als sie merkte, daß ich sie gleichfalls ansah. Freilich, sie war soeben eingetreten und grüßte als eine soeben Eingetretene, aber das Lächeln war so wohlwollend, daß es mir sicherlich mit Vorbedacht geschenkt wurde. Und ich empfand, ich weiß es noch, ein selten angenehmes Gefühl.
»Und das … das ist mein lieber junger Freund Arkadij Andrejewitsch Dol …«, stotterte der Fürst, sobald er ihren Gruß bemerkte, während ich immer noch saß, und blieb plötzlich stecken: Vielleicht wurde er verlegen, weil er mich ihr vorstellte (eigentlich den Bruder der Schwester). Das Kissen grüßte mich ebenfalls; ich aber geriet plötzlich in den albernsten Zorn und fuhr in die Höhe: eine Anwandlung falschen Stolzes, der völlig sinnlos war: nichts als Eigenliebe.
»Entschuldigen Sie, Fürst, ich bin nicht Arkadij Andrejewitsch, sondern Arkadij Makarowitsch«, korrigierte ich schroff, ohne daran zu denken, daß ich mich vor den Damen dankend hätte verbeugen müssen. Zum Teufel mit diesem peinlich taktlosen Augenblick!
»Mais … tiens!« rief der Fürst und schlug sich gegen die Stirn.
»Wo haben Sie die Schule besucht?« hörte ich in unmittelbarer Nähe die einfältige Frage des Kissens, die auf mich zugegangen war.
»In Moskau, im Gymnasium.«
»Aha! Ich habe schon davon gehört. Und wie, war es eine gute Schule?«
»Eine sehr gute.«
Ich stand immer noch da und sprach wie ein Soldat beim Rapport.
Die Fragen dieser jungen Dame waren zweifelsohne nicht besonders geistreich, aber immerhin war sie geistesgegenwärtig genug, um mein törichtes Benehmen zu überbrücken und dem Fürsten über seine Verlegenheit hinwegzuhelfen, der inzwischen mit heiterem Lächeln der ihm ins Ohr flüsternden Werssilowa zuhörte, offenbar ging es nicht um mich. Die Frage war: Wie kam diese mir völlig unbekannte junge Dame dazu, meinen dummen Fauxpas und alles übrige zu überbrücken? Zumal es völlig unvorstellbar war, daß sie sich einfach so an mich gewandt hätte: Dahinter steckte eine Absicht. Sie musterte mich so neugierig, als wünschte sie, daß auch ich sie mir möglichst genau merkte. Das alles habe ich erst nachträglich kombiniert und – mich nicht getäuscht.
»Wie, schon heute?« rief plötzlich der Fürst und sprang auf.
»Haben Sie es denn nicht gewußt?« wunderte sich die Werssilowa. »Olympe! Der Fürst hat nicht gewußt, daß Katerina Nikolajewna heute eintreffen wird! Wir sind ja ihretwegen gekommen, wir dachten, sie sei mit dem Vormittagszug gekommen und längst zu Hause. Aber wir haben uns soeben vor dem Haus beim Aussteigen getroffen: Sie kam direkt von der Bahn und sagte, wir sollten zu Ihnen vorausgehen, sie würde gleich nachkommen … Aber da ist sie ja!«
Eine Seitentür öffnete sich und – jene Frau erschien!
Ich kannte bereits ihr Gesicht, nach dem erstaunlichen Porträt, das im Kabinett des Fürsten hing; ich hatte dieses Porträt diesen ganzen Monat lang studiert. Während ihrer Anwesenheit habe ich im Kabinett etwa drei Minuten verbracht und keine einzige Sekunde den Blick von ihrem Gesicht abgewandt. Aber wenn ich das Porträt nicht gekannt und jemand mich nach diesen drei Minuten gefragt hätte: »Wie sieht sie aus?« – dann hätte ich darauf nichts antworten können, weil ich
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