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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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und konnte noch nicht sprechen, und Taktgefühl war eine der vorherrschenden Eigenschaften in Krafts Charakter.

Viertes Kapitel
    I
    Kraft hatte früher irgendwo einen Posten innegehabt, war aber auch dem verstorbenen Andronikow zur Hand gegangen (gegen Honorar) bei der Erledigung verschiedener privater Aufträge, denen dieser neben seiner Amtstätigkeit beständig nachgegangen war. Für mich war schon der Umstand wichtig, daß Kraft, eben wegen der besonderen Nähe zu Andronikow, über vieles von dem, was mich so sehr interessierte, unterrichtet sein konnte. Überdies wußte ich von Marja Iwanowna, der Gattin Nikolaj Semjonowitschs, bei dem ich als Gymnasiast mehrere Jahre gelebt hatte – einer leiblichen Nichte, Pflegetochter und Andronikows ausgesprochenem Liebling –, daß Kraft sogar »beauftragt« sei, mir etwas auszuhändigen. Ich hatte bereits den ganzen Monat auf ihn gewartet.
    Er hauste in einer kleinen Wohnung, in zwei Zimmern, völlig zurückgezogen, und jetzt, nach seiner Rückkehr, sogar ohne Bedienung. Sein Koffer stand zwar geöffnet da, war aber noch nicht ausgepackt, verschiedene Dinge lagen auf Stühlen und auf dem Tisch vor dem Sofa ein Sac de Voyage, ein Necessaire, ein Revolver usf. Beim Eintreten schien Kraft, tief in Gedanken versunken, mich völlig vergessen zu haben; wahrscheinlich war ihm überhaupt nicht aufgefallen, daß ich mich unterwegs mit ihm nicht unterhalten hatte. Kaum eingetreten, begann er etwas zu suchen, hielt aber, als er zufällig in den Spiegel blickte, inne und betrachtete sein Gesicht eine volle Minute lang. Ich habe das zwar bemerkt (später mußte ich mich an alles nur zu gut erinnern), aber ich war traurig und ganz verstört. Ich war außerstande, mich zu konzentrieren. Einen Augenblick lang überkam mich plötzlich der Wunsch, mich auf dem Absatz umzudrehen, fortzugehen und diese Angelegenheiten für immer aufzugeben. Ja, und worin bestanden diese Angelegenheiten eigentlich? Hatte ich mir vielleicht diese Sorge selbst eingeredet? Ich war immer wieder verzweifelt gewesen, weil ich meine Energie vielleicht aus purer Sentimentalität auf nichtige Bagatellen verschwendete, während ich mir doch selbst eine Aufgabe gestellt hatte, die meine volle Energie forderte. Indessen hatte ich meine Unfähigkeit, mit einem ernsten Problem umzugehen, durch mein Auftreten bei Dergatschow unmißverständlich bewiesen.
    »Kraft, werden Sie noch einmal zu denen gehen?« fragte ich ihn plötzlich.
    Er wandte sich langsam zu mir um, als hätte er mich schlecht verstanden. Ich setzte mich auf einen Stuhl.
    »Verzeihen Sie ihnen«, sagte Kraft plötzlich.
    Ich glaubte natürlich, er meinte es spöttisch, aber als ich ihn aufmerksam ansah, entdeckte ich in seinem Gesicht eine dermaßen seltsame, sogar verblüffende Treuherzigkeit, daß ich selbst erstaunt war über den Ernst, mit dem er mich bat, ihnen zu »verzeihen«. Er nahm einen Stuhl und setzte sich neben mich.
    »Ich weiß ja selbst, daß ich vielleicht ein Mischmasch sämtlicher Formen des Egoismus bin und sonst nichts«, begann ich, »aber um Verzeihung werde ich nicht bitten.«
    »Wen denn, es gibt ja niemand zum Bitten«, sagte er ruhig und ernst. Er sprach die ganze Zeit ruhig und sehr langsam.
    »Dann bin ich eben vor mir selber schuldig … Ich bin gern vor mir selber schuldig … Verzeihen Sie, Kraft, daß ich vor Ihnen aufschneide. Sagen Sie, gehören Sie etwa auch zu diesem Kreis? Das ist es eigentlich, was ich Sie fragen wollte.«
    »Die sind nicht dümmer und auch nicht klüger als alle anderen; es sind Verrückte, wie alle.«
    »Sind denn alle – Verrückte?« Vor lauter Neugier wandte ich mich ihm unwillkürlich zu.
    »Die besten Menschen sind jetzt alle – verrückt. Nur das Mittelmaß und die Unbedarften leben jetzt aus dem vollen … Übrigens ist alles das nichts wert.«
    Beim Reden starrte er in die Luft, begann einen Satz und stockte wieder. Besonders eigenartig war der melancholische Klang seiner Stimme.
    »Ist es denn möglich, daß auch Wassin zu ihnen gehört? Wassin ist doch ein Kopf, in Wassin ist doch eine sittliche Idee!« rief ich aus.
    »Sittliche Ideen gibt es jetzt überhaupt nicht mehr; plötzlich hat sich herausgestellt, daß keine einzige mehr vorhanden ist, und sogar mit dem Anschein, als hätte es sie auch niemals gegeben.«
    »Auch früher nicht?«
    »Lassen wir das lieber«, sagte er, sichtlich ermüdet.
    Mich rührte sein schmerzlicher Ernst. Ich schämte mich für meinen Egoismus und

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