Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
stimmte mich auf seinen Ton ein.
»Die heutige Zeit«, begann er, nachdem er etwa zwei Minuten geschwiegen und unablässig irgendwohin in die Luft gestarrt hatte, »die heutige Zeit ist die Epoche des goldenen Mittelmaßes und der Gefühlsarmut, der Vorliebe für Ignoranz, Faulheit, der Unlust zu handeln und des Anspruchs auf Fix-und-Fertiges. Niemand will sich Gedanken machen; nur selten kommt jemand auf eine eigene Idee.«
Er verstummte abermals und schwieg eine Weile; ich wartete.
»Heute werden die Wälder Rußlands abgeholzt, sein Boden ausgelaugt, in eine Steppe verwandelt und für die Kalmücken zugerichtet. Steht ein Mensch mit einer Hoffnung auf und pflanzt ein Bäumchen – schon lachen ihn alle aus: ›Wirst du denn jemals seine Früchte erleben?‹ Andererseits debattieren Menschen guten Willens darüber, was in tausend Jahren sein wird. Eine konsolidierende Idee ist völlig verschwunden. Alle leben, als wären sie in einem Gasthaus abgestiegen, und möchten am liebsten schon morgen aufbrechen, um Rußland zu verlassen; alle denken nur daran, ob es für sie noch reicht …«
»Erlauben Sie, Kraft, Sie sagten: ›Sie machen sich Sorgen darüber, was in tausend Jahren sein wird.‹ Und wie steht es mit Ihrer Verzweiflung … über das Los Rußlands … ist das nicht eine Sorge von derselben Art?«
»Das ist … Das ist – die aktuellste Frage, die es nur gibt!« sagte er gereizt und erhob sich schnell von seinem Platz.
»Ach ja! Ich habe das völlig vergessen!« sagte er plötzlich mit einer völlig veränderten Stimme und sah mich wie jäh erwachend an. »Ich habe Sie zu mir gebeten und es … Um Gottes willen, entschuldigen Sie!«
Er schien plötzlich aus einem Traum aufzuwachen und war fast verlegen; er nahm aus einem neben ihm auf dem Tisch liegenden Portefeuille einen Brief und reichte ihn mir.
»Hier, das ist es, was ich Ihnen auszuhändigen habe. Ein Dokument von einiger Wichtigkeit«, begann er mit einer aufmerksamen und völlig sachlichen Miene.
Mich überraschte auch später, noch lange danach, wenn ich mich daran erinnerte, seine Fähigkeit (und zwar in solchen Stunden!), mit so viel herzlicher Anteilnahme sich einer fremden Angelegenheit zu widmen und sie so ruhig und gelassen darzulegen.
»Dies ist der Brief jenes Stolbejew, nach dessen Ableben es zu dem Prozeß zwischen Werssilow und dem Fürsten Sokolskij gekommen ist. Diese Erbsache wird jetzt vor Gericht verhandelt und wahrscheinlich zugunsten Werssilows entschieden; das Gesetz spricht für ihn. Indessen äußert in diesem Brief, einem privaten Brief, geschrieben vor zwei Jahren, der Erblasser persönlich seinen wirklichen Willen oder vielmehr seinen Wunsch, und zwar eher zugunsten der Fürsten als Werssilows. Jedenfalls erhalten die Punkte, auf die sich die Fürsten Sokolskij bei der Anfechtung des Testaments stützen, eine starke Unterstützung durch diesen Brief. Werssilows Gegner würden viel für dieses Dokument geben, das übrigens keine entscheidende juristische Schlagkraft besitzt. Alexej Nikanorowitsch (Andronikow), der Werssilows Partei vertrat, verwahrte diesen Brief in seinen Akten und händigte ihn mir kurz vor seinem Ableben aus, mit dem Auftrag, ihn ›beiseite zu legen‹ – vielleicht fürchtete er um seine Akten in der Vorahnung seines Todes. Ich kann mir heute kein Urteil über die Absichten Alexej Nikanorowitschs in diesem Fall erlauben und muß gestehen, daß ich mich nach seinem Tod in einer belastenden Unschlüssigkeit befand, wie ich mit diesem Dokument verfahren sollte, zumal eine Gerichtsentscheidung in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Aber Marja Iwanowna, der Alexej Nikanorowitsch bei Lebzeiten sehr viel anvertraute, half mir aus der Verlegenheit: Sie schrieb mir vor drei Wochen unmißverständlich, daß ich das Dokument Ihnen aushändigen solle und daß damit Andronikows Wille wahrscheinlich (so drückte sie sich aus) entsprochen werde. Also, hier ist das Dokument, und ich bin sehr froh, daß ich es Ihnen endlich übergeben kann.«
»Hören Sie«, sagte ich, verblüfft von der so unerwarteten Neuigkeit, »was soll ich denn jetzt mit diesem Brief anfangen? Was soll ich tun?«
»Das steht in Ihrem Belieben.«
»Unmöglich, von einem Belieben meinerseits kann nicht die Rede sein, das müssen Sie selbst zugeben! Werssilow wartet so dringend auf dieses Erbe … Und wissen Sie, ohne diese Hilfe ist er verloren – und plötzlich existiert ein solches Dokument!«
»Es existiert nur hier, in
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