Ein guter Blick fürs Böse
zurückkehren, wenigstens für eine Weile. Und wenn sie das tut, bevor der Streitfall entschieden ist, erleidet sie einen großen Nachteil. Sie hat in den Augen des Gerichts das Feld geräumt. Napoleon hat bei Waterloo das Gleiche getan, und was hat es ihn gekostet! Wer sollte Victorine während ihrer Abwesenheit vor Gericht vertreten? Sie kann sich vermutlich keinen Anwalt leisten. Verzweifelte Situationen führen gelegentlich dazu, dass Menschen verzweifelte Maßnahmen ergreifen. Victorine ist eine sehr gerissene Person und, wenn ich das sagen darf, hart wie Stahl. Schon deswegen mache ich mir ernsthafte Sorgen um Flora.«
Er stieß ein dumpfes Grollen aus, bevor er fortfuhr. »Dieser Fall bereitet mir gewaltiges Kopfzerbrechen. Ich stehe unter ständig wachsendem Druck, die Mordermittlungen endlich abzuschließen. Das kann so nicht weitergehen. Ich glaube nicht, dass ein Gericht in der Frage des Erbes entscheidet, bevor der Mörder von Tapley benannt wurde. Ich werde von einem veritablen Rudel von interessierten Parteien gehetzt: der Familie, der Witwe, Dunn, der Presse, der öffentlichen Meinung und den Anwälten. Und während das alles geschieht, mache ich mir Sorgen, genau wie du, weil Flora so verwundbar ist, daran besteht kein Zweifel. Uns bleibt nur, darauf zu vertrauen, dass Jonathan Tapley und seine Frau irgendwie verhindern, dass Victorine das Mitgefühl der jungen Frau ausnutzt. Auf der anderen Seite scheint sie mir nach deiner Schilderung, wie sie als junger Mann verkleidet heimlich ihren Vater besucht hat, eine recht einfallsreiche junge Lady zu sein!
Übrigens hat die französische Botschaft uns informiert, dass die Eheschließungsurkunde vollkommen in Ordnung zu sein scheint. Von der französischen Polizei haben wir bisher noch nichts gehört.«
»Ich bin sehr gespannt darauf, Victorine kennenzulernen«, sagte ich. »Aber es muss wohl warten bis zur Beerdigung.«
»Was die Beerdigung angeht, wäre ich in meiner Eigenschaft als der ermittelnde Beamte ohnehin dabei gewesen. Jetzt sind wir von der Tochter des Verstorbenen offiziell eingeladen, und das erspart es mir, im Hintergrund zu lauern, um niemandem durch meine Anwesenheit zu nahe zu treten.« Ben lächelte grimmig. »Und was Madame Victorine Tapley angeht, habe ich noch nicht all meine Asse ausgespielt.«
Inspector Benjamin Ross
Am nächsten Tag suchte ich mit Hilfe von Sergeant Morris und Constable Biddle ganz London nach einem Hotel ab, in dem ein gewisser Hector Mas kürzlich abgestiegen war. Vergeblich. Wir erfuhren von französischen Gästen in allen möglichen Etablissements, billigen und teuren, einfachen und komfortablen. Wir sprachen mit mehreren Franzosen. Keiner von ihnen kam als unser Mann in Betracht. Von den bereits abgereisten schien auch keiner der Gesuchte zu sein. Sie waren entweder zu alt oder zu jung oder in Begleitung ihrer Frauen gewesen oder dem Hotelpersonal von früheren Besuchen bekannt. Wir beschrieben Victorine Guillaume, doch niemand vom Hotelpersonal erinnerte sich an eine Frau, auf die unsere Beschreibung gepasst hätte. Morris bemerkte mir gegenüber, dass Victorine Guillaume zu der Sorte Frau gehörte, die man nicht so leicht übersah.
»Und dieser Hector Mas«, fuhr er fort. »Er ist entweder in einer privaten Unterkunft abgestiegen oder in einer möblierten Herberge, einem Hotel garni , oder in einem Lokal mit lediglich einem oder zwei Betten, die man mieten kann. Davon gibt es Hunderte in London, Sir. Wir brauchen ein Dutzend Männer, um sie alle aufzusuchen, und es dauert wahrscheinlich eine ganze Woche, wenn nicht länger – und selbst dann … wenn Hector Mas dem Besitzer ein paar Guinees bezahlt hat, damit er abstreitet, ihn je beherbergt zu haben, dann wird er das nur zu bereitwillig tun.«
»Was für eine Sorte Mann war dieser Mas, Morris?«, fragte ich.
»Einer, der nichts Gutes im Schilde führt, wenn Sie mich fragen, Sir. Andererseits könnte er auch ein Exzentriker sein. Was auch immer, er wollte jedenfalls nicht gesehen werden.«
Am folgenden Nachmittag war ich imstande, mit Dunns Hilfe einen netten kleinen Plan in Bewegung zu setzen, den ich zwischenzeitlich ausgebrütet hatte. Ich war zuversichtlich, dass er funktionieren würde, doch ich wusste zugleich, dass ich aussehen würde wie ein Narr, falls er fehlschlug. Und wie schrieb doch der schottische Poet: Selbst die besten Pläne können gründlich schiefgehen. Keine Ahnung, wie er hieß. Vielleicht sollte ich Lizzie fragen. Sie kennt
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