Ein Hauch von Schnee und Asche
ihr Gespräch, als sie ihn beobachteten.
»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte Ian und kam näher.
Plötzliche Stille senkte sich über das Zimmer. Malva blickte bestürzt von einem Gesicht zum anderen.
»Maman?«
Germain stand verschlafen wankend in der Tür.
»Ist er hier? C’est Monsieur? «
Ohne eine Antwort oder Erlaubnis abzuwarten, stolperte er vorwärts und beugte sich über das blutverschmierte Bett. Er starrte seinen neugeborenen Bruder mit leicht geöffnetem Mund an.
»Er sieht aber komisch aus«, sagte er und runzelte die Stirn. »Was hat er denn?«
Fergus hatte stocksteif dagestanden, genau wie wir anderen. Bei diesen Worten sah er zu Germain hinunter, richtete den Blick dann auf das Baby, dann wieder auf seinen Ältesten.
»Il est un nain« , sagte er fast beiläufig. Er drückte Germain die Schulter, so fest, dass der Junge erschrocken aufjaulte, dann machte er plötzlich kehrt und verließ das Zimmer. Ich hörte, wie sich die Haustür öffnete, und ein kalter Luftzug wehte durch den Flur und durch das Zimmer.
Il est un nain. Es ist ein Zwerg.
Fergus hatte die Tür nicht geschlossen, und der Wind pustete die Kerzen aus und ließ uns im Halbdunkel zurück, das nur noch von der Glut des Kohlebeckens erleuchtet wurde.
36
Winterwölfe
Der kleine Henri-Christian schien völlig gesund zu sein; er war eben ein Zwerg. Doch er hatte leichte Gelbsucht, und die schwach goldene Schattierung seiner Haut ließ seine Wangen zart leuchten wie die Blütenblätter einer Osterglocke. Mit seiner schwarzen Schmalzlocke hätte er ein kleiner Chinese sein können – hätte er nicht diese riesigen blauen Augen gehabt.
In gewisser Weise hatte ich das Gefühl, dass ich ihm dankbar sein sollte. Nur die Geburt eines Zwerges war in der Lage, die Aufmerksamkeit der Bewohner von Fraser’s Ridge von mir und den Ereignissen der vergangenen Monate abzulenken. Nun starrten die Leute mir nicht mehr in das verheilende Gesicht oder suchten holpernd nach etwas, was sie zu mir sagen konnten. Sie hatten jede Menge zu sagen – zu mir, zueinander – und nicht selten zu Marsali, wenn weder Brianna noch ich rechtzeitig da waren, um sie aufzuhalten.
Wahrscheinlich sagten sie dieselben Dinge auch zu Fergus – falls sie ihn zu Gesicht bekamen. Er war drei Tage nach der Geburt des Babys zurückgekehrt, schweigend und mit finsterer Miene. Er war lange genug geblieben, um Marsalis Namenswahl zuzustimmen und sich kurz unter vier Augen mit ihr zu unterhalten. Dann war er wieder gegangen.
Falls sie wusste, wo er war, sagte sie es nicht. Vorerst wohnte sie mit den Kindern bei uns im Haus. Sie lächelte die anderen Kinder an und hörte ihnen zu, weil eine Mutter das muss, doch sie schien stets auf irgendetwas zu lauschen, das nicht da war. Fergus’ Schritte?, fragte ich mich.
Doch eines war gut; sie hielt Henri-Christian stets dicht bei sich und trug ihn in einer Schlinge am Körper oder hatte ihn zu ihren Füßen in seinem Binsenkörbchen stehen. Ich hatte schon öfter Eltern gesehen, die ein behindertes Kind bekommen hatten; oft reagierten sie darauf, indem sie sich zurückzogen, weil sie mit der Situation nicht umgehen konnten. Marsali ging genau entgegengesetzt damit um und beschützte ihn mit Leib und Seele.
Ständig kamen Besucher, angeblich, um irgendetwas mit Jamie zu besprechen oder mich um ein Tonikum oder eine Salbe zu bitten – doch in Wirklichkeit hofften sie, einen Blick auf Henri-Christian werfen zu können.
Daher war es nicht überraschend, dass sich Marsali anspannte und Henri-Christian an ihre Brust klammerte, sobald sich die Hintertür öffnete und ein Schatten die Schwelle verdunkelte.
Diesmal jedoch entspannte sie sich ein wenig, als sie sah, dass Ian der Besucher war.
»Hallo, Cousinchen«, sagte er und lächelte sie an. »Geht es dir gut, und dem Kleinen auch?«
»Bestens«, sagte sie bestimmt. »Möchtest du deinem neuen Neffen einen Besuch abstatten?« Ich konnte sehen, dass sie ihn genau beobachtete.
»Ganz genau, und ich habe ein kleines Geschenk für ihn.« Er hob seine kräftige Hand und fasste sich an sein Hemd, unter dem sich etwas als Beule abzeichnete. »Dir geht es ebenfalls gut, hoffe ich, Tante Claire?«
»Hallo, Ian«, sagte ich. Ich stand auf und legte das Hemd beiseite, dessen Saum ich gerade nähte. »Ja, alles bestens. Möchtest du ein Glas Bier?« Ich war dankbar, ihn zu sehen; ich hatte Marsali beim Nähen Gesellschaft geleistet – oder vielmehr bei ihr Wache gestanden, um weniger
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