Ein Hauch von Schnee und Asche
aber er musste es versuchen. Es war Freitag; er konnte – und würde – am Sonntag eine Predigt über das Übel des Tratschens halten, die den Leuten die Ohren verbrannte. Angesichts dessen, was er über die menschliche Natur wusste, würde jeder Nutzen, den er damit erzielte, wahrscheinlich von kurzer Dauer sein.
Darüber hinaus – nun, Mittwochabend war eine Zusammenkunft der Loge. Diese entwickelte sich wirklich gut, und er gefährdete die zerbrechliche Freundschaftlichkeit der jungen Loge nur ungern, indem er bei einer Zusammenkunft eine unangenehme Situation riskierte … Doch wenn die Chance bestand, dass es half … wäre es dann sinnvoll, Jamie und die beiden Christies zur Teilnahme zu ermutigen? Es würde die Angelegenheit ans Tageslicht befördern, und ganz gleich, wie schlimm, es war weitaus besser, wenn alle Welt es offen erfuhr, als wenn ein geflüsterter Skandal vor sich hin schwärte. Er ging davon aus, dass Tom Christie die Regeln des Anstands befolgen und sich zivilisiert verhalten würde – doch bei Allan war er sich nicht so sicher. Der Sohn hatte zwar die Gesichtszüge und die selbstgerechte Haltung seines Vaters geerbt, doch Toms eisernen Willen und seine Selbstbeherrschung besaß er nicht.
Er hatte die Hütte erreicht, die verlassen zu sein schien. Allerdings hörte er das Geräusch einer Axt, das langsame Klop! , mit dem Feuerholz gespalten wurde, und er machte sich auf den Weg zur Rückseite.
Es war Malva, die sich auf seinen Gruß hin mit argwöhnischer Miene umdrehte. Er sah, dass sie bläuliche Ränder unter den Augen hatte, und ihr sonst so hübsches Gesicht war finster. Ein schlechtes Gewissen, so hoffte er, als er sie freundlich begrüßte.
»Wenn Ihr hier seid, um mich dazu zu bringen, dass ich es zurücknehme, das tue ich nicht«, sagte sie geradeheraus, ohne seinen Gruß zu beachten.
»Ich bin hier, um Euch zu fragen, ob Ihr mit jemandem reden möchtet«, sagte er. Das überraschte sie; sie stellte die Axt hin und wischte sich mit der Schürze über das Gesicht.
»Reden?«, sagte sie langsam und betrachtete ihn. »Worüber denn?«
Er zuckte mit den Achseln und lächelte sie kaum merklich an.
»Worüber Ihr wollt.« Er gestattete es sich, entspannt mit Akzent zu sprechen, der jetzt breiter wurde und so ähnlich klang wie ihre Edinburgher
Aussprache. »Ich bezweifle, dass Ihr in letzter Zeit Gelegenheit hattet, mit irgendjemandem zu reden, außer mit Eurem Vater und Eurem Bruder – und die können Euch eventuell jetzt nicht zuhören.«
Ein ähnliches, schwaches Lächeln huschte über ihre Gesichtszüge und verschwand.
»Nein, sie hören mir nicht zu«, sagte sie. »Aber das macht nichts, ich habe sowieso nichts zu erzählen. Ich bin eine Hure, was gibt es da noch zu sagen?«
»Ich glaube nicht, dass Ihr eine Hure seid«, sagte Roger leise.
»Ach, nein?« Sie lehnte sich ein wenig zurück und betrachtete ihn spöttisch. »Wie würdet Ihr denn sonst eine Frau nennen, die die Beine für einen verheirateten Mann breit macht? Ehebrecherin natürlich – aber auch Hure, habe ich mir sagen lassen.«
Er glaubte, dass sie ihn mit ihrer absichtlich groben Ausdrucksweise schockieren wollte. Das tat sie auch, doch das behielt er für sich.
»Fehlgeleitet vielleicht. Jesus hat die Frau nicht getadelt, die eine Hure war , also ist es nicht meine Sache, jemanden zu tadeln, der keine Hure ist.«
»Und wenn Ihr hier seid, um mir Bibelzitate vorzutragen, so spart Euch den Atem, um Euren Porridge damit zu kühlen«, sagte sie und verzog angewidert ihre zierlichen Mundwinkel nach unten. »Davon habe ich schon mehr gehört, als mir lieb ist.«
Das, so dachte er, stimmte wahrscheinlich. Tom Christie war ein Mann, der für jede Gelegenheit einen Vers parat hatte – oder zehn -, und wenn er seine Tochter nicht körperlich züchtigte, so hatte er es mit großer Wahrscheinlichkeit mit Worten getan.
Weil er nicht wusste, was er als Nächstes sagen sollte, hielt er ihr die Hand entgegen.
»Wenn Ihr mir die Axt gebt, erledige ich den Rest.«
Sie zog eine Augenbraue hoch, gab ihm die Axt in die Hand und trat einen Schritt zurück. Er stellte ein Stück Holz auf den Block, spaltete es sauber entzwei und bückte sich, um das nächste Scheit aufzuheben. Sie sah ihm einen Moment zu, dann setzte sie sich langsam auf einen kleineren Baumstumpf.
Der Gebirgsfrühling war immer noch kühl; der letzte Winterhauch des hoch gelegenen Schnees noch nicht verzogen, doch die Arbeit wärmte ihn. Er vergaß
Weitere Kostenlose Bücher