Ein Hauch von Seide - Roman
aufgewachsen war, es gehörte dem Mann, bei dem seine Mutter arbeitete, solange er sich erinnern konnte.
»Sieh mich nicht so an«, sagte seine Mutter scharf. »Du besitzt genug Verstand, um zu wissen, dass Tom Charters dich nicht gezeugt haben kann. Dümmer, als die Polizei erlaubt, und das nicht erst seit gestern. Jetzt setz dich schon in Bewegung. Ich werd mir nie verzeihen, wenn wir zu spät kommen. Er hat die ganze Nacht nach dir gefragt, das hat er.«
War sein Vater …? Oliver schluckte den Kloß herunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte. »Weiß er es? Dad? Ich meine, Tom?«
»Das weiß ich nicht, und es ist mir auch egal. Jetzt mach schon.«
Sie hatten inzwischen das Haus betreten, und eine Pflegerin in Schwesterntracht kam ihnen die Treppe herunter entgegen. Das Gesicht seiner Mutter war von Anspannung überschattet.
»Noch nicht gegangen, oder?« Seine Mutter hatte noch nie um den heißen Brei herumgeredet.
»Nein«, antwortete die Schwester und trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Oliver folgte seiner Mutter, die kaum nickte, als die Krankenschwester ihr hinterherrief: »Ich warte hier unten, bis Sie mich brauchen.«
Die Treppe war steil, und sie mussten zwei Etagen hinaufsteigen. Seine Mutter kam oben an, ohne zu schnaufen, doch Oliver war, wie er sich eingestehen musste, ziemlich außer Atem. Er hätte unglaublich gern eine geraucht. Falls er sich je ausgemalt hatte, mit seiner Mutter darüber zu sprechen, wer genau sein leiblicher Vater war, dann hatte er sich nie vorgestellt, sie würde es so sachlich, ja fast ungeduldig abhandeln, ohne jede Spur einer Entschuldigung. Als er noch ein Kind gewesen war, hatte es Klatsch gegeben, mehr oder weniger deutliche Hinweise von verschiedenen Familienmitgliedern, doch irgendwie war er davon ausgegangen, dass seine Mutter beschämt und peinlich berührt wäre, wenn sie von dem Klatsch wüsste.
Als seine Mutter die Schlafzimmertür öffnete, konnte Oliver die mühsamen, rasselnden Atemzüge des Mannes hören, der auf Kissen gestützt im Bett lag.
»Ich bin’s, Phil«, erklärte sie tonlos.
Eine lange dünne Hand mit vortretenden Adern und eingefallener Haut wurde über die Bettdecke gestreckt. Seine Mutter nahm sie und hielt sie fest.
»Hast du … ihn … hergebracht, Eileen?«, fragte er rasselnd und von gequälten Atemzügen unterbrochen.
Zögernd und gleichzeitig doch von etwas getrieben, dem er sich nicht widersetzen konnte, trat Oliver ans Bett.
»Du musst seine Hand halten«, erklärte seine Mutter ihm leise, »es geht rasch zu Ende, und er kann dich wahrscheinlich nicht sehen.«
Instinktiv wollte er sich weigern. Der Mann, den er sein Leben lang für seinen Vater gehalten hatte, hatte ihm nie körperliche Zuneigung gezeigt, er hatte ihm eher mal einen Klaps versetzt, als ihn zu umarmen, und trotzdem kam es ihm falsch vor, die Hand eines anderen »Vaters« zu halten. Doch wieder wurde er angetrieben von etwas, das stärker war als Instinkt.
Ein Teil von ihm nahm wahr, wie ähnlich die Hand des anderen Mannes der seinen war, und ähnlich auch die Form der eingesunkenen Augen und der ausgeprägten Nase.
»Oliver.« Die Stimme des Mannes im Bett war, wie der Griff seiner Hand, stärker, als Oliver erwartet hatte.
»Dein Vater hat deine Fotos in all den eleganten Zeitschriften gesehen, Vogue und so weiter«, erklärte seine Mutter ihm.
»Er ist ein guter Junge, Eileen. Ein guter Sohn.« Die eingesunkenen Augen füllten sich mit Tränen. »Ein Sohn, auf den ein Mann stolz sein kann, und ich bin stolz auf dich, Oliver. War immer stolz auf dich, immer, gleich vom ersten Augenblick an, als deine Mutter mir von dir erzählt hat. Du hättest hier bei mir sein sollen, und das wärst du auch gewesen, wenn die Dinge anders gelegen hätten.« Seine Stimme wurde immer schwächer, die Worte wurden langsamer und mit immer größerem Abstand gesprochen, erstarben mit jedem Ringen um Luft. Sein Griff um Olivers Hand wurde schlaff.
Oliver sah seine Mutter an, und dann tat sein Vater einen tiefen, zitternden Atemzug und rief: »Eileen …«
»Ich bin hier, Phil … Ich bin hier.«
Während sie sprach, rasselte der Atem in der Kehle seines Vaters. Dann hob er den Kopf vom Kissen und sank mit einem letzten Atemzug wieder darauf nieder. Seine Mutter hielt noch seine Hand, Tränen liefen ihr übers Gesicht.
»Er hat dir alles hinterlassen«, erklärte Olivers Mutter ihm drei Stunden später. Sie saßen in der Küche des Hauses, in der sie so
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