Ein Hauch von Seide - Roman
viele Jahre gearbeitet hatte. Der Arzt war gekommen und wieder gegangen, ebenso der Leichenbestatter, und jetzt waren sie allein.
»Hat große Stücke auf dich gehalten, das hat er, gleich vom ersten Augenblick an.«
»Ja? Na, aber er hatte ’ne komische Art, es zu zeigen, was? Der Frau eines anderen ein Kind andrehen und …«
»Das reicht. Ich erlaube nicht, dass du schlecht über deinen Vater sprichst, besonders nicht jetzt, da er tot ist. Er wollte mich heiraten, jawohl, aber ich war doch verheiratet, und schon in der Bibel steht, was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Aber er war immer gut zu mir, und er hat dafür gesorgt, dass es dir an nichts fehlte. Erinnerst du dich an das Fahrrad, das du mit zehn bekommen hast?«
Daran erinnerte sich Oliver gut. Er war der einzige Junge in der Straße gewesen, der ein nagelneues Raleigh-Fahrrad gehabt hatte, und er war so stolz gewesen wie ein Pfau.
»Das hat er dir gekauft, dein Vater. Ich war dagegen, weil ich Angst hatte, es könnte Klatsch geben, aber er ließ es sich nicht ausreden. Wollte, dass ich ein paar Fotos von dir darauf mache – wollte immer, dass ich Fotos von dir für ihn mache, ja. Er wollte dich auch auf so eine vornehme Schule schicken, aber das habe ich nicht erlaubt.
Erinnerst du dich an die ausgefallene Kamera, die du wolltest, als du angefangen hast? Die hat er für dich besorgt.«
»Die habe ich aus zweiter Hand gekauft.«
»Brandneu war sie, und dein Vater hat sie gekauft, und ich hab dir gesagt, ich hätte von dem alten Mann gehört, der Kameras verkaufte.« Die Stimme seiner Mutter war verächtlich und zugleich voller Stolz. »Er hat dir alles hinterlassen. Das hat er mir gesagt. Hat gemeint, es wäre nur recht. Er hat dich geliebt, das hat er, worauf du dich verlassen kannst.« Ihre Stimme brach. »Hat dich geliebt wie verrückt. Dauernd von dir gesprochen hat er. Hat mich manchmal ganz verrückt gemacht, so viele Fragen hat er über dich gestellt.«
Oliver starrte an die Küchenwand. Sie war mit Temperafarbe in einem kränklichen Grün gestrichen, stellenweise blätterte die Farbe bereits ab. Hier hatte ein Mann gelebt, den er nicht gekannt hatte, der aber sein Vater gewesen war, der an ihn gedacht, ihn geliebt, ihn gewollt hatte. Er dachte an die Distanz, die zwischen ihm und dem Mann, den er sein Leben lang für seinen Vater gehalten hatte, geherrscht hatte, und an die Verwirrung und den Schmerz, die er als Kind oft empfunden hatte, weil er wusste, dass sein Vater sich über ihn ärgerte und ihm grollte. Eine gewaltige Welle des Verlustes überrollte ihn. Er sah seine Mutter an. Sie hatte getan, was sie für richtig gehalten hatte.
Als das Flugzeug Ende Februar in den stahlgrauen Himmel aufstieg, atmete Ella schließlich die angehaltene Luft aus. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie war auf dem Weg nach New York, auf dem Weg in ihr neues Leben.
Zweiter Teil
35
England, Juni 1965
»Na, wenn das nicht Vogues allseits bewunderte Vorzeigemutti der Sechziger ist.«
Emerald, die sich große Mühe gegeben hatte, ein interessiertes Gesicht zu machen, als sie ihrem siebenjährigen Sohn am Schuljahresende beim Eierlaufen zusah, drehte sich nicht einmal um, als sie antwortete: »Werd nicht lästig, Drogo.«
An seinem dreißigsten Geburtstag drei Jahre zuvor hatte Dougie beschlossen, fortan seinen richtigen Namen zu tragen – aus keinem besonderen Grund als dem, sich einen Teil seiner selbst zurückzuholen, den er, wie er fand, irgendwie aufgegeben hatte. Es hatte ihn ebenso amüsiert wie erstaunt, wie viele Menschen, an deren Meinung ihm etwas lag, feststellten, wie angenehm ihnen die Umstellung war.
Amber hatte es vielleicht am besten zum Ausdruck gebracht, als sie ihm liebevoll erklärt hatte: »Drogo – das passt so gut zu dir, wie eine Lieblingsjacke, die ewig an der Garderobe gehangen hat, weil sie einem ein wenig zu groß war, und plötzlich entdeckt man sie wieder, und sie passt einem perfekt.«
Langweilig war in Emeralds Augen eindeutig die richtige Bezeichnung für Drogo, wie die Familie Dougie jetzt nannte. Zwar hatte sie irgendwann widerwillig akzeptiert, dass er zur Familie gehörte, und sein Du angenommen, doch das hieß nicht, dass sie begeistert von ihm war. Langweilig passte gleichermaßen auf das, was sie im Augenblick tun musste, weil Vogue einen Artikel über junge, moderne Mütter plante, in dem man sie als Beispiel dafür porträtieren würde, was moderne Mutterschaft in den sechziger
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