Ein Hauch von Seide - Roman
umzubringen.
Jemand stand an ihrem Bett.
»Weiß der Himmel, was in der verdammten Prämedikation war. Du warst fast zwei Stunden bewusstlos.«
Oliver. Was machte er hier?
Ellas Körper zuckte unter der Bettdecke, als sie versuchte, sich aufzusetzen. Dabei ging ihr auf, dass sie nicht in einem Krankenhausbett lag, sondern in dem Schlafzimmer von Olivers Mietwohnung.
Vage Erinnerungen stiegen auf, geisterhaft und verschwommen.
»Das Kind ist noch da«, sagte Oliver abrupt.
Noch da? Sie sah ihn verständnislos an.
»Ich konnte es nicht zulassen.«
Er konnte es nicht zulassen?
Endlich fand Ella ihre Stimme wieder. »Das war nicht deine Entscheidung.«
Oliver tat ihren Einwand mit einem Achselzucken ab. »Das Kind ist von mir. Und noch etwas: Kein Kind von mir wird aufwachsen, ohne zu wissen, wer sein Vater ist, und ohne meinen Namen zu tragen.« Wie er aufgewachsen war. »Das bedeutet, dass wir heiraten müssen.«
Heiraten? Sie und Oliver?
»Nein«, versetzte Ella augenblicklich.
»Doch«, beharrte Oliver und fügte fast streng hinzu: »Du hast jetzt keine andere Wahl. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine vornehme Familie eine Anzeige in die Times setzen würde, um der Welt zu verkünden, dass du einen kleinen Bastard zur Welt gebracht hast.«
Ella zuckte zusammen.
»Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein. Ich habe dir doch erzählt, was meiner Mutter passiert ist«, erinnerte sie ihn verzweifelt.
Oliver ließ sich nicht beirren. »Ich meine es ernst. Wir haben dieses Kind zusammen gezeugt, und es wird auf keinen Fall so aufwachsen wie ich, ohne zu wissen, wer sein leiblicher Vater ist. Sobald es auf der Welt ist, kannst du machen, was du willst – mich sitzen lassen, dich von mir scheiden lassen … du kannst tun und lassen, was du willst, aber das Kind ist mein Kind, und es bleibt bei mir.«
53
Drei Tage, vier Tage, fast fünf, fast eine Woche, und Robbie wurde mit jeder Stunde schwächer. Er wirkte beängstigend klein und zerbrechlich unter der Decke des Krankenhausbetts, die Augen riesig in ihren Augenhöhlen über den eingesunkenen, wächsernen Wangen.
»Onkel Drogo?« Das Sprechen kostete ihn offensichtlich große Mühe, und sein dünnes, zartes Stimmchen riss an Emeralds Herz. Sie liebte ihn so sehr. Warum hatte sie so lange gebraucht, um zu erkennen, was für ein kostbares Geschenk er war?
»Er kommt bald«, antwortete sie.
Sie durfte nicht gekränkt sein, dass Robbie viel munterer war, wenn Drogo da war.
Als Drogo einige Minuten später kam, spiegelten sich in seinem Gesicht dieselben Gefühle – Erschöpfung, Anspannung, Angst und der Wunsch, sich an jeden noch so schwachen Hoffnungsschimmer zu klammern – wie in ihrem eigenen. Da die Krankenschwester angeordnet hatte, dass immer nur einer von ihnen bei Robbie sein durfte, beugte Emerald sich über ihren Sohn, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und wandte sich der Tür zu.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte, doch allein bei dem Gedanken an Essen wurde ihr übel. Aus dem Krankenhaus in die Septembersonne zu treten war genauso verwirrend, wie Menschen zu sehen, die ihren normalen Alltagsbeschäftigungen nachgingen, blind gegen ihren Schmerz, gegen Robbie und die Zwillingsmächte Leben und Tod, die um ihn rangen.
Sie hatte das Krankenhaus kaum verlassen, seit Robbie eingeliefert worden war, und war darauf angewiesen gewesen, dass Drogo ihr saubere Kleider und andere notwendige Dinge brachte. Vor sich sah sie eine kleine Kirche. Ohne besonderes Ziel ging sie darauf zu. Das Portal stand offen, in der Luft hing schwerer, süßer Weihrauchduft. Aus dem dunklen Inneren kam eine Frau mit einem Kopftuch.
Aus einem Impuls heraus betrat Emerald die Kirche und blieb stehen. Sie war ein Eindringling, jemand, der hier nichts verloren hatte. Sie ging nur in die Kirche, wenn sie an einer Hochzeit teilnahm – oder einer Beerdigung. Ein Schauder durchfuhr sie.
Inzwischen hatten ihre Augen sich an die Düsternis des Innenraums gewöhnt. Sie beobachtete eine Frau, die an ihr vorbeiging, sich bekreuzigte, eine Kerze anzündete und die zarte Flamme vor dem kalten Luftzug in der Kirche abschirmte.
Robbie war wie diese Kerze, seiner Krankheit genauso hilflos ausgeliefert wie die Flamme dem Luftzug. Wie die Kerze brauchte auch er jemanden, der ihn beschützte. Emerald ging unsicher auf den Ständer mit den Kerzen zu und nahm mit zitternden Händen eine.
»Es tut mir leid, Gott«, flüsterte sie, als sie
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