Ein Hauch von Seide - Roman
hatte. Das Haus seines Vaters, wie er jetzt wusste.
Er war, sobald sie ihm den Rücken zugewandt hatte, in den Garten geschlichen und war so wie jetzt mit den Füßen durchs Laub geschlurft. Dabei hatte er großen Spaß gehabt, bis direkt vor ihm ein Paar blankpolierter schwarzer Schuhe aufgetaucht war. Er hatte an der makellosen Hose mit der messerscharfen Bügelfalte und dann am Mantel hinaufgeschaut, bis sein Blick schließlich das strenge, schroffe Gesicht des Mannes erreichte, der auf ihn herabblickte. Er war erschrocken, denn er erinnerte sich an die mahnenden Worte seiner Mutter, und er hatte sich umgedreht, um zu fliehen, doch er war mit dem Fuß irgendwo hängen geblieben und hingefallen.
Als der Mann ihn hochgehoben hatte, hatte er zuerst panische Angst gehabt und sich vor allen möglichen unerwünschten Konsequenzen gefürchtet, wie etwa Schlägen von seiner Mutter auf die nackten Beine oder, noch schlimmer, dem Gürtel seines Vaters, doch der Mann hatte nichts gesagt, hatte ihn nur festgehalten, sodass ihre Augen auf gleicher Höhe waren, und ihn schweigend angesehen. Bevor der Mann ihn runterließ, hatte er Olivers Arme plötzlich fester mit seinen Händen umfasst.
Diese Erinnerung war alles, was er von seinem Vater hatte – alles und nichts. Er hatte den Mann, der ihm das Leben geschenkt hatte, nie um etwas bitten können, doch dieses Leben war ihm geschenkt worden. Im Gegensatz zu seinem eigenen Kind, dessen Leben heute ausgelöscht werden würde, bevor es richtig angefangen hatte.
Er war am Ausgang des Parks, bevor ihm überhaupt bewusst wurde, dass er sich auf den Weg gemacht hatte, winkte ein Taxi herbei und nannte dem Fahrer die Adresse, die ihm jetzt wieder einfiel. Er hatte gar nicht gewusst, dass er sie sich gemerkt hatte.
Die Empfangsdame hörte ihm mit geschürzten Lippen und eisigem Blick zu.
»Es tut mir leid …«, sagte sie.
»Nein, das tut es nicht«, unterbrach Oliver sie, »aber es wird Ihnen noch verdammt leidtun, wenn Sie mir nicht sagen, wo sie ist, und zwar schnell.«
Als er den Flur hinunterlief, versuchte eine Krankenschwester, die ihn mit offenem Mund anstarrte, sich ihm in den Weg zu stellen. »Sie können da nicht rein.«
Durch den betäubenden Nebel der sedierenden Medikamente hörte Ella die heftige Auseinandersetzung im Flur. Dann flog die Tür auf, und Oliver platzte herein.
»Sie kann jetzt nicht gehen. Sie hat schon ihre Prämedikation bekommen.« Das war die Krankenschwester, die sich zwischen sie und Oliver geschoben hatte.
»Schön«, erklärte Oliver ihr. »Dann bleibe ich bei ihr, bis sie wieder gehen kann, aber ich lasse nicht zu, dass mein Kind abgetrieben wird. Verstanden?«
Die Worte drangen wie ein Schock durch den Nebel, der Ella einhüllte, und trieben ihren langsamen Herzschlag plötzlich zu einem wilden, ängstlichen Pochen an.
»Ich gehe einen Arzt holen. Er wird sich das nicht gefallen lassen«, drohte die Krankenschwester.
»Gehen Sie ihn suchen, und sagen Sie ihm, dass ich ihn anzeigen werde, weil er mein Kind abtreiben wollte.«
Die Krankenschwester war gegangen, doch Oliver war noch da, beugte sich über das Bett, legte Ella die Hand auf den Arm und sagte eindringlich: »Komm, wir verschwinden hier.«
Die Medikamente schienen sie aller Willenskraft beraubt zu haben. Und so machte sie einfach bei den fast traumähnlichen Dingen mit, die ihr widerfuhren.
In der einen Minute lag sie im Bett, und in der nächsten, so kam es ihr wenigstens vor, war sie in Olivers Armen und dann in einem Taxi, dann in einem Aufzug und dann in einem anderen Bett, wo man ihr endlich erlaubte zu schlafen.
Hin- und hergerissen zwischen Hochstimmung und Unglauben, blickte Oliver auf die schlafende Ella. Was zum Teufel hatte er getan? Ein Kind war das Letzte, was er wollte. So wie sein Vater ihn nicht gewollt haben konnte. Doch er hatte ihm erlaubt zu leben, er hatte sich, so gut es ging, um ihn gekümmert, hatte für ihn und für seine Mutter gesorgt. Daran erkannte man einen wahren Mann. Und Oliver konnte und wollte kein geringerer Mann sein als sein Vater.
Langsam und zögernd wurde Ella wach. Ihre Hand lag auf der Bettdecke über ihrem flachen Bauch. Tränen quollen unter ihren geschlossenen Augenlidern hervor. Sie hatte tun müssen, was sie getan hatte, doch sie würde Kummer und Schuldgefühle ertragen müssen. Jetzt würde ihr Kind nie geboren werden, doch besser so, als eine Mutter zu haben, die später in ihrem Wahnsinn versuchen würde, es
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