Ein Hauch von Seide - Roman
verlieren. Sie durften ihn nicht verlieren. Wie konnte so ein gesunder Mann einen Herzinfarkt bekommen? Amber zitterte am ganzen Leib.
Es war ein ganz normaler Februartag gewesen. Am Morgen war Jay zu einem Pächter gefahren, und Amber hatte ein Treffen ihres Wohltätigkeitskomitees besucht. Am Nachmittag waren sie zu ihrem regelmäßigen monatlichen Treffen mit dem Geschäftsführer zur Seidenfabrik gefahren.
Dort angekommen, hatte Jay über Schmerzen im Arm geklagt. Er hatte gedacht, es sei vom Holzhacken für den Kamin. Sie hatten über die Wehwehchen und Malaisen des Älterwerdens gelacht – Jay war inzwischen Anfang siebzig, sie war vierundsechzig, eigentlich noch gar nicht richtig alt.
Beim Abendessen hatten sie sich wie immer über die Familie unterhalten, besonders die Enkelkinder, und waren vor Mitternacht zu Bett gegangen. Als Amber um kurz nach zwei aufgewacht war und die Nachttischlampe eingeschaltet hatte, hatte Jay aufrecht im Bett gesessen, sich an die Brust gefasst, sein Gesicht im Lampenschein blassgrau und mit Schweißperlen bedeckt.
Sie hatte natürlich sofort gewusst, was los war, und ihr Herz hatte schwer und viel zu schnell geklopft vor Panik, als sie den Notruf gewählt hatte, während Jay protestierte, mit ihm sei alles in Ordnung, sie solle nicht so einen Aufstand machen. Als der Krankenwagen kam, protestierte er immer noch.
Die Tür zum Wartezimmer ging auf, und beim Anblick des Arztes, der aus dem Bett geholt worden war, durchfuhren Amber Hoffnung und Angst. Sie wurde an einen Besuch in Disneyland vor langer Zeit erinnert, wo sie mit ihren Enkelkindern Achterbahn gefahren war. Damals war das Entsetzen mit dem Ende der Fahrt vorüber gewesen, und sie hatte gewusst, dass es bald vorbei sein würde.
»Wie geht es ihm?«
Amber war von ihrem Stuhl aufgestanden und klammerte sich jetzt haltsuchend an die Stuhllehne. Wie oft hatte der Arzt diese ängstlichen und besorgten Worte gehört und Bange und Furcht in den Gesichtern von Angehörigen gesehen?
»Sein Zustand ist stabil.«
Der ruhige Ton und das tröstliche Lächeln bedeuteten eigentlich gar nichts.
»Wird er … wird er es überleben?« Solche schlichten Worte, doch schwer beladen mit Liebe und Angst.
Das Lächeln des Arztes war professionell, es sollte sie trösten, doch Amber sah dahinter das Mitleid und das, was es zu verschleiern suchte.
»Er hatte einen schweren Herzinfarkt, den er überlebt hat. Im Augenblick ist sein Zustand, wie gesagt, stabil. Die nächsten achtundvierzig Stunden sind kritisch. In dieser Zeit sind Patienten am anfälligsten für weitere Infarkte.«
Amber wusste, dass der Arzt damit weitere und tödliche Infarkte meinte. Ihre Finger schlossen sich so fest um die Stuhllehne, dass ihre Knöchel weiß durch die Haut schienen.
»Ich will bei ihm sein.« Irgendwie gelang es ihr, mit sicherer, ruhiger Stimme zu sprechen.
Der Arzt runzelte die Stirn. »Ihr Mann ist auf der Intensivstation.«
Amber wusste alles über die Intensivstation des Krankenhauses. Schließlich hatten Jay und sie sehr viel dazu beigetragen, dass das Krankenhaus überhaupt so etwas besaß.
»Ich störe niemanden. Jay würde wollen, dass ich bei ihm bin. Er würde es erwarten.«
Jetzt war ihre Stimme klar und überzeugt. Jay würde wollen, dass sie an seiner Seite war, und wenn sie Pech hatten und er starb, dann wollte sie bei ihm sein, um ihn in den letzten Augenblicken zwischen Leben und Tod in ihre Liebe einzuhüllen.
»Einverstanden«, sagte der Arzt. »Die Schwester wird sich darum kümmern, dass Sie einen sterilen Kittel bekommen. Aber vermutlich wollen Sie vorher noch Ihrer Familie Bescheid sagen.«
Natürlich sollte sie das, aber Amber wollte unbedingt so schnell wie möglich zu Jay. Wenn dies Jays letzte Stunden auf Erden waren, dann wollte sie sie ganz für sich, wollte den Luxus, sich ganz auf ihn konzentrieren zu können, um in der Stille der Nachtstunden mit ihm zu kommunizieren. Sie wollte ganz für Jay da sein, und nicht Mutter und Großmutter sein müssen, sie wollte sich nicht um die komplizierten Bedürfnisse ihrer Familie kümmern müssen, sondern diese kostbaren letzten Stunden mit dem Mann, den sie liebte, ganz für sich haben. Doch wie immer siegte ihr Pflichtgefühl. Ihre ausgedehnte Familie liebte Jay, sie würden ihr nie verzeihen, wenn sie sie nicht rechtzeitig informierte und sie dadurch die Gelegenheit versäumten, in seinen letzten Stunden bei ihm zu sein.
Sie nickte. Ihr »Meinetwegen« erinnerte sie
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