Ein Hauch von Seide - Roman
jemanden gerichtet hast, der dir nichts getan hat.«
»Hör auf, Ollie. Komm, trinken wir noch ein Glas«, versuchte Willie ihn zu beschwichtigen.
Oliver sah sich in dem Pub um. Er war eigentlich nicht in der Stimmung für ein Saufgelage, wie es Willie zweifellos vorschwebte. Bevor er antworten konnte, ging die Tür zur Straße auf, und eine Gruppe Männer kam herein, Reggie Kray in ihrer Mitte. Er war wie immer elegant gekleidet, und zwischen seinen Lippen baumelte eine Zigarette.
Willie trat automatisch zurück – niemand stand den Krays im Weg – und senkte den Kopf, fast wie eine Huldigung.
Reggie blieb stehen, und die Schläger hinter ihm stolperten über die dicken Cr ê pesohlen ihrer Creeper, um bloß nicht in den »Boss« zu rennen. Doch nicht vor Willie blieb Reggie stehen, sondern vor Oliver.
»Hab das Foto gesehen, das du von Ronnie und mir gemacht hast«, erklärte er, zog tief an seiner Zigarette und stieß den Rauch aus, bevor er hinzufügte: »Hübsche Arbeit. Ich und Ronnie mögen es. Aber sorg das nächste Mal dafür, dass du ein paar fesche Oberschichtpuppen draufkriegst und nicht so alte Schachteln.«
Ohne den Blick von Oliver zu wenden, rief er dem Barkeeper zu: »Alf, gib meinem Freund hier was zu trinken.« Dann fuhr er fort: »Denk dran, hier drin fotografierst du besser nicht, verstanden?«
Das brauchte er Oliver nicht zu sagen. Der Pub war eine miese Bude, in der die Krays sich trafen, um über Geschäfte zu reden, und nicht, um sich öffentlich zur Schau zu stellen. Wie Ratten, die aus den Kloaken hochkamen, zogen die, die mit den Krays Geschäfte machten, es vor, dies im Schutz der Dunkelheit zu tun.
6
Paris
Emerald bog den Fuß durch, um ihre eleganten neuen italienischen Lederschuhe und ihre schlanken Beine in den Seidenstrümpfen von Dior besser bewundern zu können. Nächste Woche um diese Zeit war sie endlich wieder in London. Das Dior-Kleid, das ihre Mutter ihr vermutlich nicht erlaubt hätte, weil es viel zu erwachsen war, war sicher verpackt, um mit ihr die Heimreise anzutreten. Bis ihre Mutter die Rechnung bekam, war es zu spät, etwas dagegen zu unternehmen. Zurückschicken konnte sie es jedenfalls nicht, denn das Haute-Couture-Kleid war maßgeschneidert.
Emerald hatte bei der herbstlichen Modeschau nur einen Blick darauf geworfen und sofort gewusst, dass sie es haben musste. Sie würde es für die offiziellen Fotos anlässlich der Bekanntgabe ihrer Verlobung mit dem Herzog von Kent tragen. Seine Mutter, Prinzessin Marina, war bekannt für ihren Stil und ihre Eleganz, doch Emerald würde von Anfang an deutlich machen, dass sie, als neue Herzogin von Kent, in Zukunft das stilvollste und eleganteste Mitglied der ausgedehnten königlichen Familie sein würde. Emerald hatte die Absicht, eine sehr populäre Herzogin zu sein.
Da die Zukunft, bis ins Detail geplant, auf sie wartete, war Emerald ungeduldig, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Sie würde den Herzog von dem Augenblick an, da sie einander vorgestellt wurden, ermutigen, sich in sie zu verlieben. Das Mädchenpensionat mochte sich offiziell auf die Fahnen geschrieben haben, dafür zu sorgen, dass den jungen Frauen gute gesellschaftliche Umgangsformen in Fleisch und Blut übergingen, doch Emerald hatte ihre Zeit in Paris genutzt, um Fähigkeiten zu verfeinern, die ihr in ihren Augen weitaus nützlicher sein würden als französische Konversation.
Diese Fähigkeiten würde sie heute noch weiter verfeinern, denn es war ihr gelungen, dem Adlerauge von Madame la Comtesse zu entfliehen. Emerald lächelte triumphierend in sich hinein, doch dann runzelte sie die Stirn.
Es sah der neugierigen Gwendolyn ähnlich, dass sie darauf bestanden hatte, sie zu begleiten und auch noch Lydia mitzuschleifen. Geschah ihnen recht, dass sie so unbehaglich dreinschauten. Emerald amüsierte sich und sonnte sich in der Bewunderung der vier jungen Männer, die im Künstlerviertel Montmartre mit ihnen an einem Tisch saßen. Doch sie interessierte sich viel mehr für den älteren Mann, der in der Nähe allein am Tisch saß und Zeitung las, und für ihn hatte sie gerade ihre seidenbestrumpften Beine bewundert. Mit schmalem Gesicht, das dunkle Haar mit erstem Grau durchsetzt, hatte er etwas an sich, was ihr einen Schauder der Erwartung über den Rücken jagte. Instinktiv wusste Emerald, dass er zu den Männern gehörte, die sehr viel über das weibliche Geschlecht wussten. Er war einer, den jede Frau stolz zu ihren Eroberungen zählen
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