Ein Hauch von Seide - Roman
setzte einen Schlag aus. Am liebsten wäre sie vor der drohenden Demütigung davongelaufen, aber natürlich war es unmöglich, etwas anderes zu tun, als dort zu bleiben, wo sie war.
»John war immer nett zu mir«, sagte sie zitternd. »Ich betrachte ihn als guten Freund, nicht als … als jemanden, den ich heiraten könnte.«
»Heiraten? Eine wie dich? Wahrlich nicht. Wenn du darauf gehofft hast, dann bist du wirklich eine Närrin. Ich habe ja gewusst, dass du eine Schwäche für ihn hast, aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass du die Realität deiner Situation und die Umstände deiner Geburt tatsächlich so aus den Augen verloren hast, dass du es wagst, an Heirat zu denken.« Ihre zornige Geringschätzung war offensichtlich.
Rose wollte sich verteidigen, doch die Situation war so schrecklich, dass sie ihre Gedanken nicht zusammenbekam.
»Lass mich offen mit dir sein, Rose«, fuhr Lady Fitton Legh kalt fort. »Mein Stiefsohn ist ein junger Mann und hat wie alle Männer, sagen wir, bestimmte Bedürfnisse. Angesichts deines Hintergrundes und deiner Herkunft bin ich in Sorge, du könntest unklugerweise versucht sein, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Quasi in die Fußstapfen deiner Mutter zu treten, wie deinesgleichen, wie man so hört, es gern tut. Das wäre keine gute Idee.«
»Sie haben nicht das Recht, so mit mir zu reden«, protestierte Rose und kämpfte gegen die Übelkeit und den Schock, die sich in ihrem Magen breitgemacht hatten. »Ich habe nichts Unrechtes getan.«
»Noch nicht, aber du würdest etwas sehr Unrechtes tun, wenn du John ermutigen würdest, eine körperliche Beziehung zu dir aufzunehmen. Weißt du, es geht ja nicht nur darum, dass du eine von der schlimmsten Sorte zur Mutter hast, es besteht sehr wohl auch die Chance, dass du und John denselben Vater habt.«
Wenn Rose unter Schock gestanden hatte, dann war dies nichts im Vergleich zu dem, was sie jetzt empfand.
»Nein. Das ist ausgeschlossen.«
»Ich fürchte, es ist traurigerweise so. Im Pickford-Blut scheint etwas zu sein, das die, in deren Adern es rinnt, dazu treibt, sich unmoralisch zu verhalten. Vor ihrem Tod hat Johns Mutter mir gestanden, dass Greg Pickford Johns Vater sein könnte.«
»Das sagen Sie nur. Es ist nicht wahr … Es kann nicht wahr sein. Wenn es wahr wäre, hätte längst mal jemand etwas gesagt.« Rose war fassungslos, sie konnte unmöglich akzeptieren, was Lady Fitton Legh sagte, dabei spürte sie deutlich, dass ihr Gegenüber jedes Wort ernst meinte. Aber wie konnten sie und John denselben Vater haben und es nicht wissen?
»Meinst du? Deine Tante weiß es auf jeden Fall, und mein Bruder ebenfalls«, erklärte Lady Fitton Legh kühl. »Warum fragst du sie nicht, wenn du mir nicht glaubst? Ich muss dich allerdings warnen, dass du damit Johns Zukunft aufs Spiel setzt. Sobald öffentlich bekannt würde, dass er womöglich nicht der Sohn meines verstorbenen Gemahls ist, würde John es als eine Sache der Ehre betrachten, den Titel und das Gut zurückzugeben.«
Was Lady Fitton Legh sagte, stimmte. Jetzt war Rose einer Ohnmacht nahe.
»Du fragst dich sicher, warum ich es die ganzen Jahre für mich behalten habe. Wenn ich ehrlich bin, ist es mir ganz recht so, denn John ist ein sehr guter Stiefsohn. Würde er das Gut verlieren, würde ich auch meine Position einbüßen. Ganz und gar nicht würde mir jedoch passen, dass du etwas mit ihm anfängst. Das Haus Fitton Legh lässt sich keine Pickford-Bastarde mehr unterschieben. Dir ist doch bewusst, was es bedeuten würde, wenn John dein Halbbruder wäre, nicht wahr, Rose? Du weißt, was Inzest ist und was für eine abscheuliche und ekelhafte Sünde es ist, Geschlechtsverkehr mit einem Menschen zu haben, mit dem man so nah verwandt ist? Allein der Wunsch danach ist eine schreckliche Sünde, eine Abweichung von allem, was anständig und normal ist. Obwohl man bei deinem Erbe und deiner Abstammung natürlich nicht wissen kann, ob solche Worte wie Normalität und Anstand dir überhaupt etwas bedeuten. Kein Wunder, dass die arme Amber sich verpflichtet fühlte, dich in ihrer Nähe zu behalten und ein Auge auf dich zu haben. Wenigstens hatte John eine angesehene und akzeptable Frau zur Mutter, wogegen deine Mutter kaum mehr war als eine Hure. Hast du ihre Veranlagung geerbt, Rose? Bist du unter diesem scheinbar so unschuldigen Gesicht, das du der Welt zeigst, insgeheim genauso verdorben und abscheulich wie die Frau, die dich zur Welt gebracht hat?
Die arme Amber,
Weitere Kostenlose Bücher