Ein Hauch von Seide - Roman
gerade die prächtige Eingangshalle von Fitton Hall betreten. Blinzelnd stand sie in den hellen Streifen Sonnenlicht, die durch die hohen, schmalen, spätmittelalterlichen Fenster fielen und die Schatten der dicken Steinmauern durchdrangen.
»Ich bin gerade auf dem Weg in die Ställe. Ich muss zu einem Pächter, und ich habe Lust hinzureiten, statt mit dem Landrover zu fahren. Warum begleitest du mich nicht?«
Er hatte nichts zu ihrer neuen Frisur gesagt, aber vielleicht war sie ihm auch noch gar nicht aufgefallen. Die prächtige Halle lag schließlich in tiefem Schatten.
»Ich würde ja gern, aber du weißt ja, wie das ist mit mir und Pferden«, antwortete sie bedauernd. Wenn er doch nur sagen würde, dann würde er eben den Landrover nehmen, damit sie ihn begleiten könnte, doch zu ihrer Enttäuschung pflichtete er ihr nur bei.
»Nein, du konntest dich nie richtig fürs Reiten erwärmen, nicht wahr? Wenn ich mich recht erinnere, war Janey von euch vier diejenige, die am besten reiten konnte.«
John blickte zur Tür, zweifellos begierig darauf, sich auf den Weg zu machen, anders als Rose, die sich an jede einzelne Sekunde, die sie zusammen sein konnten, klammerte.
»Ich bin hergekommen«, erklärte sie ihm schnell, »weil meine Tante fragen lässt, ob du und Lady Fitton Legh vielleicht Lust habt, heute Abend zum Abendessen herüberzukommen. Sie hätte angerufen, aber es ist so ein schöner Tag, dass ich gesagt habe, ich würde mit dem Fahrrad fahren. Du hast sicher gehört, dass der neue Herzog heute Abend bei uns in Denham ist?«
»Ein Australier, nicht wahr?«, fragte John. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass er eine eigene Schaffarm besitzt, und ich hätte nichts dagegen, ihn nach den Nachzuchtprogrammen zu fragen, die sie da drüben haben. Ich habe Schafe auf den Fitton-Ländereien in Wales, aber mit der Qualität der australischen Schaffelle können wir einfach nicht mithalten. Bitte sag deiner Tante, dass ich die Einladung gern annehme. Ich kann jedoch nicht für meine Stiefmutter sprechen. Du findest sie wahrscheinlich im gelben Salon. Ich mache mich besser auf den Weg …«
Ein Lächeln und ein kurzes Nicken, und schon war er zur Tür hinaus.
Rose wartete, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, bevor sie zu dem Fenster eilte, das die Auffahrt überblickte, und sich auf die breite Fensterbank kniete – der verblichene Seidenbezug des Polsters war von dem russischen Vater ihrer Tante entworfen und in Denby Mill speziell für die Familie Fitton gewebt worden –, um John so lange wie möglich hinterherzublicken.
Er hatte ihren neuen Haarschnitt nicht bemerkt, gestand sie sich traurig ein, während sie ihm mit sehnsüchtiger Hingabe hinterherschaute.
»Rose, was für eine Überraschung. Also, warum hat dich denn niemand angekündigt?«
Beim scharfen, kalten Klang von Lady Fitton Leghs Stimme kletterte Rose vom Fenstersitz herunter, um ihr gegenüberzutreten, und dabei fühlte sie sich eher wie ein ängstliches Kind denn wie eine junge Frau. Cassandra Fitton Legh hatte etwas an sich, bei dem Rose fröstelte, als würde ihre Gegenwart die Atemluft um einige Grad abkühlen. Wo Jay gut aussehend und freundlich war, war Cassandra mit ihrem einst roten, inzwischen mit Grau durchsetzten Haar reizlos und barsch. In ihrer Gegenwart fühlte Rose sich augenblicklich schuldig und unbehaglich.
»Meine Tante bat mich herüberzukommen, um Ihnen ihre Einladung zum Abendessen heute Abend zu überbringen.«
Wie lange hatte Johns Stiefmutter da gestanden? Hatte sie gesehen, dass sie sehnsüchtig durchs Fenster gespäht hatte? Bei der Vorstellung wuchs Roses Unbehagen noch. Sie wusste, dass Cassandra sie nicht mochte und verachtete, obwohl sie das nie laut ausgesprochen hatte. Doch ihr Blick verriet Rose alles.
Jetzt zog sie eine schmale Augenbraue hoch und sagte kühl: »Hat sie das? Amber kann sich glücklich schätzen, in Denham so viel Personal zu haben. Wenn ich eine junge Verwandte zu Besuch hätte, die alle Zeit der Welt hat, könnte ich sicher zahllose Beschäftigungen für sie finden, ohne sie auf einen Botengang schicken zu müssen, dessen Inhalt viel leichter und in kürzerer Zeit mittels eines Telefonanrufes hätte übermittelt werden können. Du hattest Glück, dass du John noch erwischt hast – aber ich bin mir sicher, du hättest ihn schon irgendwie aufgestöbert, um ihm deine Nachricht persönlich zu überbringen.«
Rose spürte, dass ihr Gesicht brannte. »John hat gesagt, er hat Zeit
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