Ein Hauch von Seide - Roman
angenommen.
»Emerald.«
Als sie Lydia ihren Namen rufen hörte, schlug sie rasch die Zeitung zu und versteckte die Karte unter der Schreibtischauflage.
Sie sollten, begleitet von dem widerlichen Dougie, den ihre Mutter ihr aufgezwungen hatte, an einem Mittagessen im Savoy teilnehmen. Und Emeralds Patentante schien, sehr zu Emeralds Empörung, auch noch entzückt, dass er sie zu ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen begleitete.
»Dougie ist lustig, nicht wahr?«, meinte Lydia kichernd, als sie den Raum betrat. »Er hat mir erklärt, wie sie in Australien Schafe scheren. Sie müssen furchtbar schnell sein, weißt du.«
Da Dougie hinter Lydia in den Salon geschlendert kam, warf Emerald ihm einen finsteren Blick zu und sagte spitz: »Wie faszinierend. Mir war nicht klar, dass Sie so ein geistsprühender Unterhalter sind, Dougie. Ich bin mir sicher, alle sind beeindruckt.«
»Nun, ich höre lieber Dougie zu als einigen dieser langweiligen Debütantinnenträume«, verteidigte Lydia ihn beherzt.
»Sagen Sie, Dougie, was wollen Sie eigentlich antworten, wenn man Sie fragt, auf welcher Schule Sie waren? Eton können Sie ja offenkundig nicht sagen.«
»Dass ich die Schule des Lebens besucht habe«, erklärte Dougie ihr und übertrieb absichtlich seinen australischen Akzent, denn er wusste, wie wütend sie das machte. Und dann schüttete er noch Öl ins Feuer, indem er fragte: »Und worum geht es bei diesem Dinner, zu dem wir eingeladen sind?«
»Das ist eine ›Lunchparty‹, Dougie, kein ›Dinner‹«, erklärte Lydia ihm geduldig.
»Das weiß er, Lyddy«, fuhr Emerald sie grimmig an, stand abrupt auf, fasste dabei mit der Hand an die Schreibtischauflage und zog die Karte heraus, die sie darunter versteckt hatte. Sie segelte zu Boden.
Emerald bückte sich, um sie aufzuheben, doch Dougie war schneller. Sie war mit der Rückseite nach oben gelandet. Emeralds Herz pochte heftig, als Dougie sie aufhob und umdrehen wollte. Herrisch streckte sie die Hand danach aus und sagte scharf: »Es gehört sich nicht, die Korrespondenz anderer Menschen zu lesen.«
Er sah sie an, dann richtete er den Blick auf die Karte, als überlegte er, ob er sie lesen sollte oder nicht. Rasch schnappte sie sie ihm aus den Händen.
»Was ist das, Emerald?«, fragte Lydia neugierig.
»Nichts«, antwortete sie. »Gar nichts.«
Rose starrte in die Luft. Sie war allein in dem Haus in Chelsea. Janeys und Ellas Einladung, mit ihnen auszugehen, hatte sie abgelehnt. Es war über eine Woche her, seit Lady Fitton Legh ihr erzählt hatte, John könnte ihr Halbbruder sein, und sie hatte den Schock immer noch nicht richtig überwunden.
Was sie jetzt mehr als alles andere quälte, war die Tatsache, dass Amber ihr nichts davon gesagt hatte. Warum hatte sie ihr nichts gesagt, sie wenigstens bezüglich John gewarnt, auch wenn sie sich nicht in der Lage gesehen hatte, offen darüber zu sprechen? Während Roses Kindheit und Jugend war ihre Tante der einzige Mensch gewesen, an den sie sich immer wenden konnte, der einzige Mensch, von dem sie sich wirklich geliebt fühlte, der Mensch, dem sie am nächsten stand, und die Vorstellung, dass Amber ihr etwas so Wichtiges vorenthalten hatte, tat weh.
Rose verstand natürlich, dass Amber nichts sagen konnte, solange sie, Rose, noch ein Kind war, doch nachdem sie erwachsen geworden war, hätte Amber mit ihr reden können. Aber ihre Tante hatte ganz offensichtlich das Gefühl gehabt, sie könnte Rose nicht vertrauen. Der Schmerz und der Verrat waren kaum zu ertragen.
Rose hatte große Angst gehabt vor ihrem Vater. Sie hatte sich verzweifelt nach seiner Liebe gesehnt, doch er hatte sie stets abgelehnt. Hatte er Johns Mutter geliebt? Hatte er Rose deshalb abgelehnt, weil er sich insgeheim nach dem Sohn gesehnt hatte, den er öffentlich nie den seinen nennen konnte? So viele Fragen schwirrten Rose im Kopf herum, doch um Johns willen durfte sie sie niemals laut stellen.
Seltsamerweise kam der Schmerz, den sie empfand, nicht in erster Linie von dem Wissen, dass sie ihre Liebe zu John aufgeben musste – immerhin konnte sie ihn noch lieben, wenn auch als Schwester –, sondern aus dem Gefühl, dass der Mensch, dem sie am meisten vertraut hatte, sie verraten hatte. Die Nähe, die sie immer mit Amber verbunden hatte, hatte gelitten, und statt des Gefühls, jemanden zu haben, an den sie sich immer wenden konnte, fühlte Rose sich jetzt schrecklich allein.
Es wäre wunderbar gewesen, mit John als Bruder aufzuwachsen,
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