Ein Hauch von Seide - Roman
ich weiß noch, wie entsetzt sie war, als ihr Bruder mit dir nach Hause kam. Kein Wunder, dass sie dich hier in Denham gelassen hat, statt dich zu sich nach Hause zu holen. Ich möchte behaupten, insgeheim hat sie wie ihre Großmutter gehofft, du würdest nicht überleben. Es wäre für alle Beteiligten eine Erleichterung gewesen, besonders für John. Der liebe John, so ein konservativer, respektabler junger Mann. Er wäre entsetzt, wenn er den Verdacht hätte, ihr beide hättet denselben Vater. Er ist nett zu dir, weil es in seinem Wesen liegt, aber stell dir nur vor, was er empfinden würde, wenn er denken müsste, ihr könntet Halbbruder und -schwester sein. Er würde dich hassen für die Schande, die das über ihn brächte.«
»Hören Sie auf«, flehte Rose mit bleichem Gesicht. »Bitte, hören Sie auf.«
Lady Fitton Leghs Lächeln war grausam und voller Verachtung.
»Arme Rose, allein deine Existenz ist eine Quelle der Schande und Angst für die, die dir am nächsten stehen, die Wahrheit ein Geheimnis, das sie gezwungen sind zu hüten, während sie so tun, als läge ihnen etwas an dir. Die liebe Amber war immer gut darin, so zu tun, als besäße sie ein großes Herz. Sehr klug von ihr, sich um dich zu kümmern und sich damit allgemeines Wohlwollen zu verdienen.«
Was Cassandra Fitton Legh sagte, war nicht wahr. Amber liebte sie, liebte sie wirklich, wollte Rose einwenden, doch irgendwie blieben ihr die Worte im Hals stecken, während der Stachel, den Johns Stiefmutter in ihr Herz getrieben hatte, schmerzhaft daran riss.
»Was ich dir gesagt habe, ist nur zu deinem Besten, Rose, und natürlich zu Johns. Wenn du ihn wirklich liebst, muss es unser Geheimnis bleiben.«
Ihr gemeinsames Geheimnis und eine Last, die Rose, wie ihr jetzt klar wurde, für den Rest ihres Lebens tragen musste. Aber viel schlimmer als der Schmerz zu wissen, dass sie John nur als Bruder lieben konnte, war der Schmerz zu wissen, dass das Band, die Liebe, dass alles, von dem sie gedacht hatte, es würde sie und ihre Tante Amber verbinden, Einbildung war, Torheit, Falschheit – eine Täuschung, um die Wahrheit zu verhehlen.
Lady Fitton Legh hat recht, es wäre besser gewesen, wenn ich nicht überlebt hätte, dachte Rose bitter.
»John weiß natürlich nichts von alldem oder von dem schändlichen Betragen seiner Mutter«, fuhr Lady Fitton Legh fort, »und du darfst niemals mit jemandem darüber reden, verstehst du das? Denn damit würdest du Johns Zukunft zerstören. Schließlich kann seine Mutter, die arme Närrin, sich ja auch geirrt haben, und John ist doch der Sohn ihres Gemahls. Um Johns willen müssen wir glauben, dass es so ist, nicht wahr?«
Rose nickte wie betäubt. Ihr war übel vor Schock und Kummer. Ihr bisheriges Leben lag in Trümmern zu ihren Füßen.
15
Ungläubig starrte Emerald auf die Karte, die vor ihr lag.
»Ihre Königliche Hoheit, Prinzessin Marina, und Seine Königliche Hoheit, der Herzog von Kent, bedauern, dass sie sich außerstande sehen …«
Nein! Sie hatte doch alles so sorgfältig geplant. Sie hatte sogar geübt, wie sie sich absichtlich an den Herzog lehnen würde, wenn er mit ihr tanzte, damit er gar nicht anders konnte, als sich ihres Körpers bewusst zu sein. Sie warf noch einmal einen Blick auf die Karte. Das war sicher ein Irrtum, ein Fehler irgendeines dummen Privatsekretärs. Sicher bestand der Herzog jetzt im Augenblick gerade seiner Mutter gegenüber darauf, dass sie an Emeralds Ball teilnehmen mussten. Ausgeschlossen, dass er nicht kam. Unmöglich, undenkbar, unerträglich …
Ihr Debütantinnenball hätte der beste, aufregendste, triumphalste Abend in Emeralds Leben werden sollen. Schon vor Monaten in Paris hatte sie es so geplant und sich vorgestellt, wie man sie feiern und bewundern würde, nicht nur als schönste Debütantin der Saison, sondern auch als zukünftige Gemahlin des Herzog von Kent.
Doch der Karte zufolge, die sie gerade gelesen hatte, konnte Seine Königliche Hoheit »wegen anderweitiger Verpflichtungen« nicht zu ihrem Ball kommen.
Emerald schlug die Times auf, die auf dem Tisch neben dem Schreibtisch lag, blätterte rasch zu den Hofnachrichten und überflog diese. Ihre Kehle schnürte sich in zorniger Anspannung zu, als sie nichts fand, was auf irgendwelche offiziellen Verpflichtungen des Herzogs oder seiner Mutter hindeutete. Das war Prinzessin Marinas Werk, dachte Emerald bitter. Es konnte nicht anders sein. Der Herzog hätte die Einladung gewiss
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