Ein Hauch Von Sterblichkeit
zwar relativ einfach gewesen, munter mit Meredith zu plaudern, doch Sally war im Grunde genommen nicht danach zumute. Sie fühlte sich nicht munter, ganz im Gegenteil. Sie war vielleicht im Stande, einen Tag bei Bailey and Bailey zu überstehen, ohne völlig zusammenzubrechen. Sie ging davon aus, dass Liam alleine zurechtkommen würde. Vielleicht sollte sie lieber zu Hause bleiben und ihm Gesellschaft leisten? Andererseits würde Liam wohl wieder an seinem Buch arbeiten. Sie begann wie üblich, die beiden Thermoskannen vorzubereiten – obwohl
»wie üblich« bestimmt nie wieder wie früher sein würde. Wann immer sie den Wasserkocher einschaltete, würde sie in Zukunft das Echo der Explosion hören, gefolgt von Klirren und Platzen von Glas und Geschirr. Sally erschauerte und riss sich zusammen. Sie würde sich nicht von diesen Gedanken unterkriegen lassen.
Liam saß an seinem Computer und arbeitete.
»Kaffee!«, sagte sie und stellte die Thermoskanne ab. Er blickte flüchtig zu ihr auf.
»Dann fährst du also zur Arbeit? Hältst du das für eine gute Idee?«
»Es lenkt mich zumindest von den jüngsten Geschehnissen ab. Du kommst doch bestimmt allein zurecht, nicht wahr?«
»Sicher. Würde mich nicht überraschen, wenn die Constables wiederkommen und in ihren großen Stiefeln durch das ganze Haus stapfen! Ich hoffe sehr, dass dieser Markby nicht erscheint, aber wahrscheinlich hoffe ich vergeblich. Er hat seinen Besuch angedroht. Oder vielleicht schickt er einen seiner Lakaien. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.«
»Alan? Du magst ihn nicht? Er ist Merediths Freund. Ich fand ihn eigentlich ziemlich nett.«
»Ja, sicher.« Liam hämmerte mit unnötiger Wucht auf seine Tastatur.
»Ich finde, er war ein arroganter, aufgeblasener Mistkerl!«
»Vielleicht will die Polizei mit mir reden, wenn sie vorbeikommt«, sagte Sally unsicher.
»Die werden dich doch wohl auch bei Bailey and Bailey aufstöbern können, oder etwa nicht?« Offensichtlich hatte er schlechte Laune. Ein Grund mehr, zur Arbeit zu fahren. Die Gewissensbisse, die sie gespürt hatte, weil sie ihn allein hier zurücklassen würde, hatten sich fast in Luft aufgelöst. Sally rannte die schmale Treppe hinauf und in das große Schlafzimmer. Den Raum als
»groß« zu bezeichnen, konnte nur Immobilienagenten eingefallen sein. Es war das größere von zwei Schlafzimmern, die es in ihrem Cottage gab. Da das andere Zimmer winzig war, bedeutete
»groß« in diesem Zusammenhang
»von mittlerer Größe«. Die Decke besaß eine Schräge, was den verfügbaren Platz weiter einschränkte. Die winzigen Fenster saßen in Dachgauben, die schmal waren wie Schießscharten. Wie Meredith hatte auch Sally Probleme, sich bei ihrem Lebensstil mit dem Platzangebot eines Hauses zu arrangieren, das früher eine Familie mit mehreren Kindern beherbergt hatte. So war der Fortschritt. Es gab wenig Platz für Mobiliar, und der meiste Raum wurde von dem großen Ehebett aus Fichtenholz eingenommen. Die Frisierkommode passte nicht so recht ins Zimmer, doch sie stand hier, weil Sally sie mochte. Sie hatte Tante Emily gehört und war ein extravagantes Stück aus den dreißigern mit einem aus drei ovalen Spiegeln bestehenden Spiegelaufsatz und vielen winzigen Schubladen, die mit Perlmutt ausgelegt waren. Das Furnier war poliertes Walnussholz. Wenn Sally vor dieser Kommode saß, fühlte sie sich jedes Mal wie eine jener alten Göttinnen der Leinwand, einer Hollywoodgröße aus den vergangenen Tagen des Glamours. Eigentlich müsste sie ein seidenes Negligé tragen, besetzt mit Schwanendaunen, und die Oberfläche der Kommode müsste voll gestellt sein mit Sprühflakons für Parfüm aus geschliffenem Glas und überdimensionierten Puderdosen. Doch Sally saß nie in etwas anderem als einem großen Badetuch vor der Kommode, und auf ihr standen nur die grundlegenden Dinge für das tägliche Make-up und ein Sammelsurium anderer Gegenstände, die auf der Kommode eigentlich überhaupt nichts zu suchen hatten: Briefe und gekritzelte Notizen, Papierklammern und Gummibänder. Auch Sallys Gesicht oder Figur konnten kaum als glamourös durchgehen. Trotzdem, träumen war nicht verboten. Heute Morgen allerdings schon. Heute Morgen war keine Zeit für Fantasiewelten. Das Bett war nicht gemacht. Wenn sie es so zurückließ, würde es am Abend, wenn sie zurückkam, immer noch im gleichen ungemachten Zustand sein. Liam würde nicht auf die Idee kommen, es zu machen. Sally zog die Bettdecke gerade und klopfte
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