Ein Haus für vier Schwestern
streng bist.«
»Dann wirst du völlig verzückt sein, bevor du nach Oregon aufbrichst.«
Sie legte sich eine Hand aufs Herz. »Schweig still, mein Herz!«
»Ich werde dich daran erinnern.«
Sie machte das Licht aus. »Daran zweifle ich nicht.«
39
Ginger
Ginger beendete ihre Aufwärmübungen und trat ans Wohnzimmerfenster. Sie wollte hinaussehen, bevor sie zum Laufen ging. Es war halb acht Uhr abends. Die Hitze lag immer noch wie eine Glocke über der Stadt. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob es jemals im September so heiß gewesen war, aber sie hatte es vergessen.
Sie hatte die Nase voll von der Sonne, die die Hügel rund um San José zu braunen Krusten verbacken hatte und die Luft mit grauem Smog erfüllte. Obwohl sie die damit verbundenen Gefahren kannte, vermisste sie die dunklen drohenden Regenwolken, die über die weiten Ebenen von Colorado und Kansas zogen.
In Kalifornien regnete es im Sommer nie. Das war streng verboten. Die Ernte könnte Schaden nehmen. Sie stellte sich vor, dass ein ganzes Regiment Elfen vor der Küste stationiert war und den Regen in Nebel verwandelte, bevor er das Land erreichte.
Noch vier Monate, dann konnte sie endlich nach Hause zurückkehren. Sie musste nur noch herausfinden, wo das war. Ihre Mutter plädierte für Denver. Wenn sie gut drauf war. Weil Ginger gern Ski fuhr. Wenn sie schlecht drauf war, erinnerte sie Ginger an das fortgeschrittene Alter ihrer Eltern. Normalerweise roch Ginger den Braten und verkniff sich jeden Kommentar. Die Liebe ging bei der Familie Reynolds seltsame Wege.
Sie hatte ihrer Mutter noch nichts von Marc erzählt, um sich sowohl vorgetäuschte Mitleidsbezeugungen als auch Jubelschreie zu ersparen. Sie brauchte Abstand, um den Fragen standhalten zu können, die der Bekanntgabe der Trennung unweigerlich folgen würden. Außerdem hatte sich Delores’ Sommer bereits als aufregend genug erwiesen. Der Enthüllung von Familiengeheimnissen war unerwarteter Reichtum gefolgt.
Das Telefon klingelte. Schon bevor sie abhob, wusste Ginger, dass es ihre Mutter war. Es kam ihr in letzter Zeit so vor, als müsste man nur an sie denken, damit sie anrief.
»Hallo, Mom.«
»Woher weißt du, dass ich das bin?«
»Telepathie.«
»Was?«
Ginger lachte. »Vergiss es. Was ist los?«
»Hast du Zeit? Du bist nicht gerade beim Abendessen, oder?«
»Ich wollte gerade rausgehen zum Laufen.«
»Laufen ist nicht gut für deine Knie. Du solltest lieber Rad fahren.«
»Du hast etwas darüber gelesen.«
»Ich lese dauernd etwas. Es könnte dir auch nichts schaden, wenn du ab und zu in eine Zeitschrift schauen würdest.«
»Aber deswegen hast du doch nicht angerufen?«
»Ich habe an Jessie gedacht und daran, was er auf diesen CDs erzählt. Vielleicht bin ich doch zu hart mit ihm umgesprungen.«
Ginger setzte sich aufs Sofa und legte ihre Füße auf den Couchtisch, damit sie es bequem hatte. »Wieso?«
»Die Männer waren damals anders. Es wurde nicht von ihnen erwartet, dass sie alles über Kindererziehung wussten. Die meisten Frauen hätten sie nicht einmal dabei helfen lassen. Heutzutage denkt sich niemand mehr etwas dabei, wenn ein Mann ein Kind im Einkaufswagen durch den Supermarkt schiebt. Damals wären alle stehen geblieben und hätten gegafft. Vielleicht hat Jessie dich ja nicht hergegeben, weil du ihm egal warst, sonders weil er nicht wusste, was er mit dir anfangen sollte.«
So lange hatte Ginger ihre Mutter noch nie über ihre eigenen Gedanken sprechen hören. »Wie bist du darauf gekommen?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich fühle mich sicherer als vor sechs Monaten.« Delores machte eine Pause, aber es war klar, dass noch etwas folgen würde. »Das mag abgedroschen klingen, aber im Herzen ist Platz für viele. Damit will ich sagen, dass dein Vater und ich es vollkommen in Ordnung finden, wenn du Jessie auch liebst.«
Das tat sie auch, zumindest ein bisschen. Aber dieses Gefühl war nicht zu vergleichen mit der Liebe zu dem Mann und der Frau, die sie aufgezogen hatten. »Du überraschst mich immer wieder.«
»Das ist doch nett. Ich hasse es, alt und langweilig zu sein.«
»Du bist nie langweilig.«
Delores lachte. »Aha, also nur alt, oder was? Übrigens hat uns dein Vater zu einem sechswöchigen Tanzkurs angemeldet.«
»Dad?«
»Ja, gestern. Er ist bei seinem Investmentseminar gewesen und hat die Ankündigung am Schwarzen Brett gesehen.«
»Investmentseminar?«
Sie war gespannt, was jetzt kam. Die gesamten Ersparnisse ihrer Eltern waren
Weitere Kostenlose Bücher