Ein Haus für vier Schwestern
zusammen bist.«
»Glaubst du, dass er richtig lag?«, sagte Christina.
»Ich weiß es nicht.«
War sie so mit ihrem eigenen Überlebenskampf beschäftigt gewesen, dass sie die Krankheit ihrer Mutter nicht erkannt hatte? Die Diagnose würde vieles erklären: die Stimmungsschwankungen, den Verfolgungswahn, die Depressionen. Und vor allem die Selbstgespräche mit »Donald«, die Anna in ihrem Zimmer führte. Rachel hatte immer angenommen, Donald wäre Annas Name für Gott gewesen. Viele Leute sprachen mit Gott, aber keiner hielt sie für verrückt.
Rachel sah die anderen Frauen der Reihe nach an. »Ich habe siebzehn Jahre mit ihr zusammengelebt. Wie könnte ich da so etwas Wichtiges übersehen haben?«
»Vielleicht hast du den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen?«, schlug Ginger vorsichtig vor. »Jessie hat es auch erst Jahre später herausbekommen. Warum hättest du es also merken sollen? Ich persönlich wüsste nicht, wie man einen Schizophrenen, einen manisch Depressiven oder jemanden mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung erkennt.«
»Ich auch nicht«, fügte Elizabeth hinzu.
Rachel konnte nicht mehr stillsitzen. Sie musste sich bewegen, rennen, auf etwas einschlagen, laut schreien. Sie sprang auf und rannte Richtung Diele und Badezimmer.
»Wartet mit dem Anhören des nächsten Teils auf mich. Ich bin gleich wieder da.«
Sie ging an Jessies Arbeitszimmer vorbei, hielt inne und sah hinein. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Jessie Reed für Sünden gehasst, die er nicht begangen hatte. Dieser Hass bildete die Grundlagen ihres Weltbildes. Er filterte ihren Blick auf das Leben.
Jetzt hatte sich alles, was sie wusste, ins Gegenteil verkehrt. Sogar das zerrissene Leben ihrer Mutter erschien in einem neuen Licht. Anna Kaplan war krank und einsam im Alter von vierunddreißig Jahren gestorben. Da war sie zwei Jahre jünger gewesen als Rachel heute. Hatte der Dämon, der Annas Geist verdunkelte, sie zur Treppe geführt? Oder hatte sie selbst, erschöpft vom ständigen Kampf gegen ihr Schicksal, die Entscheidung getroffen?
Wenn sie Jessies Geschichte Glauben schenkte, musste sie ihrer Mutter vergeben. Alles. Das plötzliche Verschwinden mitten in der Nacht, die Männer, die vergessenen Geburtstage, die gebrochenen Versprechen. Und sie musste Jessie vergeben, dass er nicht zu ihrer Rettung herbeigeeilt war. Und Gott – dafür, dass er ihre Gebete nicht erhört hatte.
Konnte es wirklich sein, dass am Ende niemand für die vielen Jahre in Schmerz und Wut verantwortlich gemacht werden konnte? Für das einsame Kind, das sich jede Nacht in den Schlaf geweint hatte?
Jessies Geschichte
Eines Tages im Oktober bekam ich ein Telegramm von Denise. Frank war zur Armee gegangen und hatte seine Grundausbildung beendet. Wenn ich ihn sehen wollte, bevor er in den Krieg zog, sollte ich schleunigst nach Hause kommen. Zuerst hielt ich das für einen schlechten Scherz. Er war erst siebzehn, sollte im nächsten Jahr seinen Schulabschluss machen und im Herbst zur Uni gehen. Nach Stanford – dafür hatte ich gesorgt.
Keiner in meiner Familie hatte einen höheren Abschluss. Doch mein Sohn würde studieren. Und nicht irgendwo, sondern in Stanford. Da konnte er doch nicht einfach zur Armee gehen. Und wenn, dann hatte er seine Geburtsurkunde gefälscht. Dann mussten sie ihn, verdammt noch mal, wieder laufen lassen.
Ich war fast ein halbes Jahr in Mexiko gewesen, um eine halbe Million Dollar für einen Film zusammenzubekommen, der sonst nicht fertiggestellt werden konnte. Ich hatte versucht, Frank und Elizabeth aus Mexico City anzurufen, aber entweder kam ich nicht durch oder ich kriegte nur Denise an den Hörer. Sie versprach mir immer, die Kinder würden sich melden. Doch das passierte nicht. Ich hätte es weiterversuchen sollen. Und ich hätte mich fragen sollen, warum keiner meiner Briefe beantwortet wurde. Ständig redete ich mir ein, ich würde alles wiedergutmachen, sobald ich zu Hause war.
Ich musste den Rest meines Lebens mit Träumen darüber zubringen, was gewesen wäre, wenn ich nach Hause gefahren wäre und die Dinge geändert hätte. Wenn ich nach Hause gefahren wäre und erfahren hätte, was ich nicht wusste. Diese Gedanken bringen mir einen seltsamen Frieden, verbunden mit der Trauer über alles, was hätte sein können.
Zwei Tage später war ich in Bakersfield. Es war heiß, windig und staubig. Sogar die Vögel blieben am Boden. Denise öffnete mir die Tür und sprach durch das Fliegengitter mit mir. Sie
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